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Ottweiler Zeitung
Ausgabe 42/2022
Die Stadt Ottweiler teilt mit
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„Die Unbesungenen“

Yits’hak, Roger und Jacques Hanau am Grabmal ihres Vorfahren Isaiah Hanau

Cover der Familienchronik La Famille Hanau

Letzte Führung 2022 über den Jüdischen Friedhof in Ottweiler

Paris-Touristen führt der Weg vielleicht auch einmal auf den Friedhof Père Lachaise oder den Cimetière de Montmartre mit ihren Grabmalen berühmter Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst, Literatur, Politik und Wissenschaft. Damit können die ländlichen jüdischen Friedhöfe unserer Region nicht mithalten, auch der jüdische Friedhof Ottweiler nicht. Hier fanden „Die Unbesungenen“ - so der Titel eines Gedichtes von Annette von Droste-Hülshoff, verfasst 1843 als Teil der sog. „Totengedichte“ - ihre letzte Ruhestätte. Die ersten Verse aus diesem Gedicht, eingraviert im Sockel des Grabmals von Koppel ben Asriel, lauten: „‘s gibt Gräber, wo die Klage schweigt/Und nur das Herz von innen blutet, /Kein Tropfen in die Wimper steigt/ und doch die Lava drinnen flutet: [...].“ Am Ende spricht Annette von Droste-Hülshoff die Funktion eines Grabes an: Der Besuch der letzten Ruhestätte eines Angehörigen hilft, in der Begegnung mit dem verstorbenen Menschen die Trauer zu überwinden: „O, wenn dich Zweifel drückt herab/[...]/Dann tritt an deines Vaters Grab!/Dann tritt an deines Bruders Gruft!/Dann tritt an deines Kindes Hügel!“

Diese Verse Annette von Droste-Hülshoffs greifen eine Erzähltradition über die Funktion eines Friedhofes auf, die für unseren Kulturkreis im Alten Testament begründet liegt. In der Geschichte Jakobs (Gen. 35, 19 f.) heißt es: „Als Rahel gestorben war, begrub man sie an der Straße nach Efrata, das jetzt Bethlehem heißt. Und Jakob stellte eine Standsäule auf ihr Grab, das ist die Säule am Grabe Rahels bis auf diesen Tag.“ Diese Bibelstelle kommentierte ein Rabbiner: „Noch ehe das Gesetz den Grabstein vorgeschrieben, ist er von der Pietät erdacht worden zur Erinnerung an die Entrissenen und zum Schutze des Grabes.“

Der glückliche Umstand, dass jüdische Friedhöfe auf Ewigkeit angelegt sind und der jüdische Friedhof Ottweiler in der NS-Zeit nicht zerstört wurde, ermöglichte die Nachforschungen zu mehr oder weniger bedeutenden Ottweiler Familien jüdischen Glaubens. Er bewahrte also die „Erinnerung an die Entrissenen“ mit der Folge, dass gelegentlich Nachfahren ehemaliger jüdischer BewohnerInnen Ottweilers den Weg zu dem „Haus des Lebens“ ihrer Vorfahren finden. Erinnert sei an den Besuch von Walter Coblenz aus Los Angeles, der Familie Dr. Franꞔois Van Menxel aus Münster, mehreren Nachfahren der Familie Julius Michels aus Israel. 2019 suchten Nachfahren der Familie Hanau - Roger Hanau aus Paris und sein Bruder Jacques mit seinem Sohn Yits’hak aus Israel - den jüdischen Friedhof Ottweiler auf, um am „Haus der Ewigkeit“ ihres Vorfahren Isaiah Hanau (30.3.1847 - 30.4.1917) zu gedenken.

Was bewegte sie dazu, die weiten Wege in Kauf zu nehmen, um nach Ottweiler, der Heimat ihrer Vorfahren, zu kommen? Durch den Nationalsozialismus aus Deutschland vertrieben, verloren sie über viele Jahrzehnte den Kontakt zu der Heimat ihrer Ahnen, suchten aber seit Jahrzehnten nach dem Ursprung ihrer Familie. Dank des Internet fand Roger Hanau erste Hinweise auf der Internetseite des Steinheim-Instituts Duisburg, das auf der Seite „epidat“ auch den jüdischen Friedhof Ottweilers dokumentierte. Gemeinsam mit seinem Bruder Jacques, der mit Ferdinand Hanau 2021 die Familiengeschichte ab 1446 in der Dokumentation „La Famille Hanau“ zusammenfasste und in Jerusalem veröffentlichte, suchte er seit Jahren nach Spuren seiner Ahnen und fand sie in Merzig/Brotdorf und Ottweiler. Roger Hanau wandte sich auf Grund der Angaben des Steinheim-Instituts im Dezember 2018 an die Stadt Ottweiler und fragte nach, ob die Grabstätte seines Urgroßvaters wirklich in Ottweiler zu finden sei. Durch Kontaktaufnahme mit Hans-Joachim Hoffmann, der den jüdischen Friedhof dokumentierte und seit Jahren Daten zu jüdischen Ottweiler Familien zusammenstellt, konnte der Besuch der Nachfahren von Isaiah Hanau verwirklicht werden.

Isaiah Hanau zählt zu den „Unbesungenen“, denn er hinterließ nach bisherigen Kenntnissen keine besonderen Spuren in der Geschichte der jüdischen Gemeinde Ottweiler oder gar darüber hinaus, sondern lebte das alltägliche Leben mit seinen Sorgen und Nöten, seinen Leiden und Freuden, mit seinen Pflichten und Neigungen. Die Eulogie der hebräischen Grabinschrift hebt seine Lauterkeit hervor und betont damit zugleich seine Vorbildfunktion für die Lebenden: „Hier ist begraben, ein gerechter und aufrechter Mann, ‚er ging stets den Weg des Guten‘, es ist Jeschajah, Sohn des Jizschak, gestorben ‚betagt in gutem Greisenalter‘ [...].“

Bei dem gemeinsamen Besuch des jüdischen Friedhofs beantworteten die Urenkel die Frage nach dem Grund ihrer Recherchen und der Inkaufnahme des weiten Weges zum kurzfristigen Verweilen am Grab ihres Urgroßvaters, dessen sie mit einem Gebet gedachten, mit der schlichten Antwort: „Wir begegneten unserem Vorfahren und unserer Heimat.“ Das Bewusstsein der Familienzugehörigkeit über Zeit und Raum hinweg könnte uns Anlass geben, über die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft und den damit einhergehenden Zerfall sozialer Strukturen nachzudenken.

Die Besucher zeigten sich erfreut über den gepflegten Zustand des jüdischen Friedhofs in Ottweiler, verbanden damit den Dank an die Stadt Ottweiler sowie die Synagogengemeinde Saar. Mit einem Rundgang durch die Altstadt Ottweilers, deren Erscheinungsbild sie beeindruckend empfanden, zu Stätten ehemaligen jüdischen Lebens beschlossen Roger, Jacques und Yits’hak Hanau ihren Besuch in Ottweiler.

Die letzte Führung 2022 über den jüdischen Friedhof Ottweiler erfolgt in Kooperation mit der KVHS Neunkirchen. Die KVHS weist ausdrücklich darauf hin, dass die Teilnahme an dieser Führung auf eigenes Risiko erfolgt. Insofern stellen die TeilnehmerInnen sowohl den Landkreis Neunkirchen als Träger der KVHS als auch die Synagogengemeinde Saar, die Stadt Ottweiler sowie das Stadtgeschichtliche Museum Ottweiler und den Referenten von etwaigen Ansprüchen für entstandene Schäden frei.

Eine Anmeldung bei der KVHS ist erwünscht (bis zum 26.10.2022); jedoch kann die Anmeldung auch vor der Führung bei dem Referenten erfolgen. Wegen Corona werden die persönlichen Daten der TeilnehmerInnen erfasst.

s.falkenrich@landkreis-neunkirchen.de - 06824 906 4121

s.detemple@landkreis-neunkirchen.de - 06824 906 41 70

hans-joachim-hoffmann@web.de

Hans-Joachim Hoffmann sowie die KVHS, die Stadt Ottweiler sowie das Stadtgeschichtliche Museum Ottweiler freuen sich auf Ihren Besuch.

Termin:

Sonntag, 30.10.2022

Uhrzeit:

16.00 Uhr

Treffpunkt:

Aufgang zum Friedhof in der Straße Maria-Juchacz-Ring (aus Richtung Schwimmbad kommend: Kreuzung Karl-Marx-Straße/Maria-Juchacz-Ring: rechts abbiegen - nach ca. 80 m linker Hand Aufgang zum Friedhof) Dauer: ca. 1 ½ Stunde