Gunter Demnig, der Begründer des Kunstprojekts „Stolpersteine“, ließ es sich nehmen, am 14.09.2022 zwölf neue Stolpersteine in der historischen Altstadt von Salmünster selbst zu verlegen. Damit wird nun bereits die Erinnnerung an 27 ehemalige jüdische Bewohner der Stadt wach gehalten.
Klagend erhoben sich melancholische Klarinettenklänge in den engen Gassen der historischen Altstadt. Elmar Egold hatte dazu unter anderem Kompositionen aus Vernichtungslagern der Nazis ausgewählt. Rabbiner Netanel Wurmser sang ein Gebet. Unter großer Anteilnahme der Schüler der Klasse 6b von Julia Czech sowie von Ann-Kathrin Kochs Deutschkurs der Zehntklässler verlegte Demnig insgesamt zwölf Stolpersteine in der Vogtgasse 12, der Franziskanergasse 6, im Schwedenring 12, in der Frankfurter Straße 15 und 24 sowie in der Rathausstraße 8. Schüler verlasen die Texte wie „Hier wohnt Karoline „Lina“ Dressel, geborene Korn, Jahrgang 1901, deportiert 1943, ermordet in Auschwitz.“
Gerhard Gerstner nahm als Enkel von Karoline Dressel mit seiner Frau Cornelia an der Feierstunde teil. „Heute steht Karolines Foto auf unserer Kommode, und sie wird jeden Tag angeschaut und geehrt. Wenn sie wüsste, welch’ große Familie sie hat; wir denken, dass es sie sehr freuen würde.“ Die Würdigung ihrer Großmutter ist in der Broschüre der Projektgruppe Stolpersteine Altstadt Salmünster enthalten.
Für die Organisatoren – namentlich Thomas Hummel, Tanja Steinbock und Felix Wiedergrün – war der Stolpersteinverlegung eine jahrelange und aufwendige Recherche vorausgegangen. Zeitzeugen stehen nicht mehr zur Verfügung. Es galt sich in die „Archives International Center on Nazi Persecution“ in Bad Arolsen sowie Unterlagen der Kurstadt zu vertiefen. Für die pädagogische Leiterin der Harnischfeger-Schule, Julia Czech, steht die Schule in der Pflicht, nicht nur anwesend zu sein und sich einzubringen: „Wir werden uns auch weiterhin um die Pflege der Stolpersteine kümmern und über die Menschen sprechen, die nicht mehr in Salmünster leben durften, fliehen mussten oder ermordet wurden.“ Dabei wird Tanja Steinbock die Schule mit ihrem Wissen unterstützen.
Schulgründer Henry Harnischfeger hatte Ende der 1920er Jahre darauf bestanden, eine Schule für alle zu erbauen, in der gemeinsam gelehrt und gelernt werde. „Vertraglich fixierte der in den USA lebende Harnischfeger, dass seine Schule nicht nur für katholische und evangelische Schülerinnen und Schüler, sondern explizit auch für jüdische Schülerinnen und Schüler Salmünsters offensteht.“
Felix Wiedergrün erinnerte an die Existenz einer alten jüdischen Gemeinde von 1848 bis 1938 in Salmünster. Jeder Stolperstein, den Gunter Demnig getreu dem Motto „Ein Mensch, ein Stein, ein Schicksal“ verlege, stehe für ein Leben, das erzählt werden solle. Ein Leben mit freudigen Momenten auf der einen und unvorstellbarem Leid auf der anderen Seite. Die Stolpersteine seien eine ständige Mahnung, dass Menschen in diesem Land nie wieder entrechtet, entwürdigt, verfolgt und ermordet werden dürften.
Bürgermeister Dominik Brasch warnte vor dem Abstumpfen durch Gewohnheit. Es gelte den gesellschaftlichen Frieden zu wahren und gegen Nationalismus aufzustehen. Erschwerend ist, dass der persönliche Bezug aufgrund der Generationenwechsel zunehmend schwieriger wird. Mit dem Wissen, dass die Zahl der überlebenden Augenzeugen jedes Jahr kleiner wird, rücken der Krieg und der Holocaust für die jüngere Generation immer weiter in die Ferne. Umso wichtiger ist es, dass die Erinnerungen wachgehalten werden. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der erneut Krieg in Europa herrscht, in der Antisemitismus, Rassendiskriminierung und Verunglimpfung Andersdenkender sowie andere Lebenskonzepte wieder alltäglich zu werden scheinen. Auch aufgrund von Ereignissen, die wir alle in der Krisen-gebeutelten Zeit beobachten können, ist es wichtig, dass wir uns heute einmal mehr ins Bewusstsein rufen, welchen Einfluss das nationalsozialistische Regime auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hatte und welche Folgen dieser Zeit bis heute spürbar nachwirken.
Der Botschafter der jüdisch-chassidischen Gemeinde Niko Deeg freute sich über die aktive Beteiligung der Schüler. Erinnert wird durch die neuen Stolpersteine an Rosa Jakobi, Karoline „Lina“ Dressel, Max Jakobi, Frieda Gundersheim, Ella Neuhaus, Levi Stern, Rida „Henny“ Wolf, Rosa „Gertrude“ Stern, Leopold Neuhaus, Rosa Neuhaus, Martha Neuhaus und Fanny Bryks. Sieben von ihnen wurden ermordet, eine überlebte im KZ Theresienstadt. Fünf gelang die Flucht in die USA. Von zwei der Genannten ist das Schicksal nach einem unfreiwilligen Umzug unbekannt.
Bürgermeister Dominik Brasch (von links), der Klarinettist Elmar Gold, Tanja Steinbock, Felix Wiedergrün, Niko Deeg, Netanel Wurmser und Thomas Hummel.
Die Stolpersteine von Jakob und Auguste Korn wurden bereits im Jahr 2018 verlegt. Der Stolperstein von Karoline „Lina“ Dressel ist einer von 12 Stolpersteinen, welche am 12. September in der Salmünsterer Altstadt verlegt wurden.
Etliche Teilnehmer erinnerten an die ehemaligen jüdischen Bewohner im Rahmen der Stolpersteinverlegung.