Titel Logo
Braunfelser Stadtnachrichten
Ausgabe 39/2023
Wichtige Informationen
Zurück zur vorigen Seite
Zurück zur ersten Seite der aktuellen Ausgabe

Suzanne Bohn präsentierte Annie Ernaux

Die Stadtbücherei Braunfels hatte zu einem Literaturabend eingeladen und die Vortragskünstlerin Suzanne Bohn aus Braunfels gebeten, die französische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux vorzustellen. Bohn, eine gebürtige Französin, bot vor einem zahlreichen Publikum einen gut strukturierten Vortag in drei Teilen an.

Zunächst gab es allgemeine Informationen zum Preis selbst, der seit 1901 existiert und seitdem insgesamt 895 Männer und 61 Frauen auszeichnete. In der Sparte Literatur wurde der Nobelpreis 117mal verliehen, davon 17mal an Frauen und 16mal an Franzosen. Annie Ernaux ist die erste Französin und die 17. Literatin weltweit, der diese höchste Ehre verliehen wurde. Die Referentin ging dann auf die heftige Polemik ein, welche diese die Franzosen überraschende Wahl im Lande auslöste. Der Favorit war eigentlich Michel Houellebecq. Annie Ernaux wurde Gegenstand einer Demontagekampagne, die sich teils auf ihr politisches Engagement in der ultralinken Szene, teils auf einen für Frankreich nicht atypischen Antifeminismus stützte. Auch der minimalistische Schreibstil - beziehungsweise Anti-Stil der Autorin, den sie selbst bewusst flach und nüchtern hält, um so ihres Anspruchs nach Sezierens des Ichs besser gerecht zu werden, wurde Gegenstand der schlimmsten Angriffe vonseiten ihrer Gegner, die die Tatsache wohlweislich beiseiteließen, dass sie lange vor der Stockholmer Auszeichnung eine Auflage von vier Millionen weltweit verkaufter Bücher und seitdem innerhalb von nur Monaten eine Neuauflage von einer Million erreichte. Der Prix Renaudot für „La place“ (Der Platz) im Jahre 1984, der Prix Marguerite Duras und der Prix Francois Mauriac für den Bestseller des Jahres 2008 „Die Jahre“, der Prix de la langue française (Preis der französischen Sprache) für das Gesamtwerk und nun der Nobelpreis für Literatur sprächen Bände und ließen alle Kritiken schwach aussehen, so die Referentin, bekennende Ernaux- Fan.

Im zweiten Teil des Referats streifte Suzanne Bohn die großen Linien der Biografie der Schriftstellerin, die Ihr eigenes Leben zur Materie ihrer Bücher machte: Die Geburt 1940 in der Normandie als Tochter von Bistro-Besitzern, das Studium der modernen Literatur, ihre Abtreibung mit 23 Jahren, die damals noch mit der Todesstrafe geahndet wurde, die Heirat mit einem Akademiker, der Tod der an Alzheimer erkrankten Mutter, die Männer und die Liebe. Jedes Kapitel der Geschichte der Annie Ernaux, die sich selber als „Ethnologie des Ichs“, ist zu einem Buch geworden. Suzanne Bohn nannte auch die der Denkweise der Autorin zugrunde liegenden philosophischen Einflüsse, vorneweg die Philosophen und Soziologen Michel Foucault und Pierre Bourdieu, die den Einfluss des Denksystems durch das Kontrollorgan „Gesellschaft“ hervorhebten (Foucault) und die frühe unauslösliche Prägung des Elternhauses und des Milieus, was den „Habitus“ des Individuums formatierte.

Im dritten und letzten Teil kommentierte Suzanne Bohn einige ausgewählte Bücher der sozialen Schichtüberläuferin, die vom Proletariat zur intellektuellen Elite des Landes überwechselte, ohne jedoch bei letzterer heimisch zu werden, denn in Frankreich sei es auf der vertikalen Sozialleiter quasi unmöglich, wenn man von unten kommt, oben akzeptiert zu werden. Viele der autobiographischen Bücher- übrigens alle ebenso kurz wie fesselnd - handeln von der Scham, einerseits vom Proletariat zu stammen und von der Scham, sich deshalb seiner Eltern und seines Milieus geschämt zu haben. Der reichhaltige Vortrag, der sich auch als Kaleidoskop Frankreichs (mit vielen kleinen Nebeninfos zu den verschiedensten Themen) verstand, sollte Lust auf Annie Ernaux und ihre soziologischen Studien eines Frauenschicksals der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machen.