Das Bürgerarchiv der Gemeinde ist in Verbindung mit der NABU-Ausstellung jeden Mittwoch von 16.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.
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Das Bürgerarchiv informiert:
Tagebuchaufzeichnungen des Schreinermeisters Christian Runkel (Auswahl)
Teil 10
Das Erbe des Weltkrieges
Liebe zur Heimat ist es auch heute noch nach dem schweren Krieg mit all seine Entbehrungen, Schrecken, Freiheitsberaubungen und Nöten, die uns die Feder in die Hand drückt um späteren Generationen Klarheit und Aufschluss zu geben. (..)
Das Chaos innerhalb Deutschlands nimmt kein Ende. Die Nazis liegen noch immer in den Lagern und anderseits schreiten die Verhaftungen noch fort. So wurden in der vergangenen Woche der neue Oberbürgermeister von Marburg und weitere Mitglieder der Verwaltung verhaftet. Dann liest man: Argentinien Hitlers Geheimpartner, oder Deutschland als Exportland – wirtschaftliche Pläne für 1946, in erster Linie Holz für Amerika, Hopfen für Belgien. Mehrere tausend Sägemühlen in Bayern sollen Holz einschneiden. Betreffs der Preisfestsetzung in Nutzholz holt die Abteilung Export und Import Preise aus New York, London und Paris ein, um einen dem Weltmarkt entsprechenden Preis vereinbaren zu können. Man weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die für die amerikanisch geltende Umrechnung von 10 Mark gleich 1 Dollar keine Anwendung findet.
(..) Vom Rhein wird berichtet, dass die Rheinschiffahrt und der Verkehr über die Flussbrücken jetzt wieder vollständig normal seien, nachdem das Hochwasser etwa eine Woche lang die Eisenbahn- und Straßenverbindung unterbrochen hatte.
Die Verhandlungen gegen die Kriegsverbrecher in Nürnberg werden wohl bis in den April dauern. Die Alliierten können es nicht begreifen, dass das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit den Verhandlungen kein Interesse entgegenbringt. Ein deutscher Journalist sollte darüber berichten. Er schreibt, dass er nach dem Besuch des Filmes – Die Todesmühlen - nicht in der Lage gewesen sei, etwas zu berichten. Er musste erst seine Nerven durch einen längeren Marsch zur Ruhe bringen. Er ging unter das Publikum, das aus dem Film kam, um dort Aussprüche zu hören, die ihm für seinen Bericht von Nutzen sein konnten. Immer wieder hörte er das Wort „Propaganda“.
„Ja“, sagte er, „es ist doch alles photographiert worden. Die Menschen können doch nicht annehmen, dass die Amerikaner die Knochen von vielen tausend Menschen über den Ozean gebracht haben zu diesem Zweck“.
(..) Heute liegt die Sache noch viel tiefer. Das ganze deutsche Volk bis hinauf zum Gauleiter (vielleicht nur mit wenigen Ausnahmen) wusste nichts von den Verbrechen, die in den K.Z.-Lagern verübt worden sein sollen. Es wird auch keinen Deutschen geben, der damit einverstanden ist, ganze Völker zu vernichten. Dazu hat kein Mensch die Berechtigung, selbst wenn große und schwere Anschuldigungen vorgelegen hätten. Bei den Zeitungsberichten über diese Sache erklärt ein Arzt, nach einer schweren Krankheit dürfe ein Patient nicht rückwärts schauen, sondern nur vorwärts. Das ist richtig, aber noch richtiger und begreiflicher ist es, dass ein Volk, wenn es unschuldig, sich auch keiner Schuld bewusst ist, Unrecht leiden soll. Auf dem Parteitag in Nürnberg hörte ich auch zum ersten Male von der Zerstörung der jüdischen Synagogen. Dies ist auch eine Sache, die niemand „gut“ heißen kann. Was der Mensch an Religion besitzt, muss man ihm lassen. In den Großstädten kann man davon Kenntnis gehabt haben, aber auf dem Lande nirgends.
Hier auf dem Lande kam es öfters vor, dass russische Gefangene überhaupt nicht arbeiten wollten. Daraufhin kamen sie dann nach Frankfurt, waren aber meistens nach 5 Tagen schon wieder zurück und arbeiteten dann gerne wieder. So etwas kann man wohl begreifen. (..)
10. März 1946. Nun haben wir auch den Film „Die Todesmühlen“ (Ein Streifen über die Gräueltaten in Deutschen Konzentrationslagern) gesehen, der in Biedenkopf lief. Jeder einstmalige Parteigenosse und auch Teile de Gliederungen waren gezwungen, ihn anzusehen. Andernfalls sollte die Lebensmittelkarte entzogen werden. Dem Bürgermeister musste eine in Biedenkopf ausgestellte Bescheinigung über den Besuch des Filmes ausgehändigt werden. Das Resultat ist auf dem Lande ganz genau dasselbe wie in den Städten. Was die Alliierten erreichen wollten, dass das Volk den Nationalsozialismus verfluchen sollte und als das Schädlichste bezeichnen sollte, was es je gegeben hat, wurde nicht erreicht. Teilnahmslos wird zugesehen, der Deutsche kann es nicht begreifen. (..) Das ganze kommt dem Volk in seiner Schuldlosigkeit so unwahrscheinlich vor, dass es jede Bemerkung (..) unterlässt.
Ab 9. März lief die Bahn zum ersten Male wieder von Ludwigshütte aus. Unterhalb Biedenkopfs ist noch eine Brücke in der Nähe der Erlenmühle kaputt. Zu deren Herstellung braucht man mindestens noch einige Monate. Die Verbindung wird hier durch Autos hergestellt. (..)
Für die demnächst zu erwartenden Ostflüchtlinge werden in vielen Häusern Zimmer abgetrennt, das es nur noch ganz wenige Zimmer gibt, die noch frei sind. Die Evakuierten sind auch noch in großer Zahl hier. In Wallau und anderen Orten sind schon Flüchtlinge angekommen, wie man hörte, meistens ältere Leute. Die arbeitsfähigen Menschen hält der Russe erst noch fest, um sie zur Arbeit zu gebrauchen. Der Winter ist noch nicht zu Ende, immer haben wir noch viel Schnee, wenn auch
die Kälte nicht sehr hoch ist. Die Rationen wurden von 1200 Kalorien auf 800 herabgesetzt.
Heute, am 6. Oktober 1946 schreibe ich zum ersten Male wieder weiter. Sieben Monate sind verflossen. Die Bevölkerung ist sehr fleißig gewesen. Hat gesät und geerntet, um dem Boden ohne Kunstdünger und Saatmaterial die höchsten Erträge abzuringen. Das Gespenst des Hungers hat fast allen Menschen Runen ins Angesicht und Beschwerden in die Glieder gebracht. Und das ganz besonders den Unversorgten. Kartoffelwassersuppe und sehr wenig Brot war die Nahrung. Die Selbstversorger haben Sonntags ihre Kuchen gebacken, haben aber selbstverständlich unter der Rationskürzung bei der vielen Arbeit ihre Beschwerden. Die Militärregierung hat denn auch erklärt, dass der Rationssatz erhöht werden müsse, da der gesundheitliche Zustand des Volkes in größter Gefahr sei. Vor einiger Zeit hat man den Bergleuten im Kohlengebiet Zulagen gegeben. Folglich ist die Produktionsleistung sehr gestiegen. Auch hat man den Arbeitern in anderen Betrieben Schwer- und Schwerstarbeiterzulagen gegeben. Die Kohlenbergwerkarbeiter erhalten auch mehr Tabakwaren und Branntwein. Hierzulande kostet eine Zigarre 1,70 Mark und mehr und ein Päckchen Kleinschnitttabak 7,00 Mark. (..)
Damit ist der teilweise Abdruck der „Runkelschen Chronik“ über die Zeit der amerikanischen Besatzung beendet. Einige Sätze und Absätze wurden, weil sie persönlicher oder politischer Natur sind, nicht berücksichtigt. Dies ist (..) so gekennzeichnet. Diese Chronik ist, soweit bekannt, die einzige, zusammenhängende Aufzeichnung über das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen in unserer Gemeinde. Auch noch andere Aufzeichnungen hat Christian Runkel erstellt. So schreibt er, zusammen mit seiner „Co-Autorin“, der Lehrerin i.R. Frl. Sidonie Krücke, einige Aufsätze über historische Gegebenheiten, Vereine, Einführung der Tierversicherung, der Elektrizität u.a. In einem Aufsatz befasst sich Frl. Krücke mit dem Aberglauben, Sitten und Gebräuche früherer Zeiten. Dieser Aufsatz wird im Laufe des Winters in Fortsetzung hier erscheinen.