Bürgermeisterin Manuela Henkel
Am 17. Januar titelte „Die Zeit“: „40 Prozent der Deutschen unzufrieden mit Demokratie“. Insgesamt 44 Prozent der durch das Institut für Demoskopie Allensbach und das Medienforschungsinstituts Media Tenor Befragten gaben an, dass sie mit ihren freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein müssen. Die Meinungsfreiheit ist im deutschen Grundgesetz festgeschrieben. Unsere Demokratie lebt aber von der Meinungsfreiheit und damit von der Meinungsvielfalt. Der Austausch unterschiedlicher Meinungen ist auch Grundlage unserer Arbeit im Stadtrat. Auch privat, am Arbeitsplatz oder in der Kneipe wird über die aktuellen Themen und Entwicklungen mit unterschiedlichen Meinungen debattiert und diskutiert.
Ich habe jedoch den Eindruck, dass diese Debatten in den letzten Jahren irgendwie anstrengender geworden sind. Mir kommt es so vor, als dass wir uns in so ein „Entweder Du bist dafür oder dagegen Ding“ reinmanövriert haben. Entweder bin ich für die Coronaimpfung oder dagegen, ich bin links oder rechts, bin fürs Gendern oder dagegen, Klimaschützer oder Klimagegner, für Waffenlieferungen oder dagegen. Meinungen sind oft nur noch schwarz oder weiß, stark verfestigt und Fronten haben sich aufgebaut. Es ist manchmal regelrecht anstrengend geworden, miteinander zu diskutieren. Selbst im Freundes- und Familienkreis bilden sich schnell verschiedene Lager: „Ich habe aber Recht!“ - so pocht ein jeder auf seine Meinung. Die Demokratie ist eine echte Herausforderung.
Doch wie sehr kann ich meiner eigenen Meinung denn trauen? Wie kommt diese überhaupt zustande? Die aktuelle psychologische Forschung zeigt Erstaunliches. Sie geht mittlerweile davon aus, dass Meinungsbildung oft kein rein rationaler Prozess ist. Es zeigt sich, dass eher irrationale, also nicht logische Aspekte dabei ebenso eine wichtige Rolle spielen, z. B. unsere Erinnerungen und Prägungen. Ein zweiter Punkt bei der Meinungsbildung sind unsere Gefühle. Habe ich positive Gefühle, höre ich anderen eher zu, auch wenn es um kontroverse Themen geht. Wer grundsätzlich schon angespannt und ärgerlich in ein Gespräch geht, ist nicht unbedingt offen für eine andere Meinung. Drittens wird unsere eigene Meinung laut den Forschern oft von der Meinung unserer Mitmenschen beeinflusst. Gruppenzugehörigkeit wie die zur Familie, den Arbeitskollegen oder einer politischen Gruppierung spielt bei der Meinungsbildung eine große Rolle. Wenn wir uns mit einer Gruppe identifizieren, dann hat das einen erheblichen Einfluss auf die eigene Meinung und auch darauf, wem man überhaupt zuhört.
Schließlich weisen die Forscher auf den Einfluss von kognitiven Verzerrungen hin. Beim sogenannten „Dunning-Kruger-Effekt“ überschätzen Menschen vor allem dann ihr Wissen, wenn sie sich in dem speziellen Bereich gar nicht oder kaum auskennen. Auch der sogenannte „Bestätigungsfehler“ kann unsere Wahrnehmung verzerren. Unsere grundsätzliche Weltsicht hat nämlich erheblichen Einfluss darauf, welche Informationen wir überhaupt ernst nehmen und wo wir zuhören. Was nicht in unser Weltbild passt, wird einfach ignoriert. So sollten bei einer Studie Versuchspersonen Argumente lesen, die nicht in ihr eigenes politisches Bild passten. Das Lesen dieser Gegenargumente löste negative Emotionen bei den Studienteilnehmern aus. Es kann also richtig stressig sein, eine andere Meinung zu hören. Wenn man aber schon vom Leben mit all seinen aktuellen Herausforderungen gestresst ist, dann gehen wir vielleicht in diesen turbulenten Zeiten kontroversen Debatten lieber gleich aus dem Weg? Wir schauen einfach über andere Meinungen hinweg, hören erst gar nicht mehr zu?
Warum sollten wir uns trotzdem andere Meinungen anhören? Weil Respekt vor dem anderen und seiner Meinung wichtig für ein gutes Miteinander sind. Weil wir selbst lernen, uns weiterentwickeln und nicht stehen bleiben wollen. Und letztlich weil wir uns eingestehen müssen, dass die Demokratie mit ihrer Meinungsvielfalt zwar die anstrengendste, aber immer noch die beste Staatsform ist, die wir kennen und wir dafür alle etwas tun müssen. Hört sich einfach an, ist aber in der Praxis eine Herausforderung: Also mehr zuhören, Stress abbauen, die eigene Meinung öfters hinterfragen und einfach mal wieder Freude an kontroversen Debatten und Diskussionen entwickeln. Dann wird’s auch wieder was mit der Demokratie!
Herzlichst Ihre Bürgermeisterin
Manuela Henkel