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Bouser Echo
Ausgabe 46/2024
Seite 11
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Ein Bouser in Burgund geehrt

Liebe Freundinnen und Freunde der Städtepartnerschaft, es gibt Interessantes zu berichten! Wußten Sie dass ein Bouser im Burgund geehrt wurde? Es ist die Geschichte von Edmont Boinet, der am 05. Dezember 1919 in Bous geboren wurde. Unser Mitbürger Paul Endres hat Fakten und Bilder zu diesem außergewöhnlichen Lebensweg zusammengetragen. Nehmen Sie sich die Zeit die kleine Geschichte zu lesen - es lohnt sich!

Im Namen des Vereines: Vielen Dank, Herr Endres! (R.Wiesdorf)

Ein Bouser in Burgund geehrt

Der 15. Mai 2011 war ein großer Tag für das nicht einmal 300 Einwohner zählende Dorf Courcelles-lès-Semur im nördlichen Burgund. So viele politische Mandatsträger waren schon lange, vielleicht schon seit Jahrzehnten, nicht mehr hier zusammengekommen: vom Senat in Paris, vom Generalrat in Dijon, von der Kreisverwaltung in Semur-en-Auxois, vom Verband der Gemeinden, Bürgermeister und Gemeinderäte aus den Nachbargemeinden. Dieses Aufgebot an politischer Prominenz ist besonders beeindruckend, wenn man die in Frankreich vorherrschende Trennung von Kirche und Staat bedenkt. Es ging nämlich darum, einen einfachen Landpfarrer zu ehren.

Die Gemeinde Courcelles hat neben der kleinen Dorfkirche aus dem 14. Jahrhundert einen Platz angelegt, um ein sumpfiges Gelände auszutrocknen, dessen Feuchtigkeit schon die Bausubstanz der Kirche angegriffen hat. Dieser Platz wurde nun eingeweiht und zu Ehren des letzten, in dieser Gemeinde residierenden Pfarrers

„Square Edmond Boinet“ genannt.

Wem galt diese Ehre?

Blicken wir gut hundert Jahre zurück. Während des Ersten Weltkriegs kam mit andern französischen Kriegsgefangenen auch Pierre Boinet aus der Normandie nach Bous. Er fand Arbeit im Röhrenwerk und war mit der Zeit auch bei seinen deutschen Kameraden beliebt, weil er immer freundlich und zuverlässig war.

In Bous lebte die junge Kriegerwitwe „Heinens Trina“. Ihr Mann war gefallen und nun stand sie allein mit ihrer vierjährigen Tochter Paula. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit Nähen.

Und wie das Schicksal es so will: eines Tages kreuzten sich die Wege von Trina und Pierre. Als der Krieg zu Ende und Pierre wieder ein freier Mann war, haben sie geheiratet. Sie erwarben ein Haus in der Saarbrücker Straße, das jetzt das Namensschild „Bella Italia“ trägt. Hier wurde am 05. Dezember 1919 Edmond geboren. Zehn Jahre später kam noch eine Tochter Yvonne.

Mit etwa 13 Jahren stand es für Edmond fest, er wollte Priester werden. Der Entschluss kam nicht plötzlich. Die Neigung zu diesem Beruf zeigte sich schon im Kindesalter. Mit einem Jungen aus der Nachbarschaft spielte er gern Messe. Später war er dann ein sehr eifriger Messdiener.

Eine französische Industriellenfamilie im Warndt, für die Mutter Trina nähte, hat im bischöflichen Konvikt (Gymnasium mit Internat als Vorstufe zum Priesterseminar) in Montigny-lès-Metz einen Ausbildungsplatz gestiftet. Und dieser wurde nun Edmond zugesprochen. Hinzu kam, dass zu Anfang der dreißiger Jahre am politischen Himmel Wolken aufzogen, die nichts Gutes für die Zukunft verhießen, besonders für eine „gemischt-nationale“ Familie. Ob sie auf Dauer hier bleiben konnten, wie sie es ursprünglich geplant hatten, wurde zunehmend unsicherer. Deshalb ging Edmond nach Montigny.

Nach der Volksabstimmung von 1935 verschlechterte sich das politische Klima, vor allem Ausländern gegenüber. Auch die französischen Direktoren der bis dahin von Frankreich verwalteten Röhrenwerke begannen, ihre Koffer zu packen. Einer von ihnen riet Pierre Boinet dringend an, mit ihm zu der Zweigniederlassung in Montbard im nördlichen Burgund zu kommen und sagte ihm Arbeit und Wohnung zu. Man könne ja nicht wissen, wie lange das Leben im inzwischen rückgegliederten Saargebiet noch sicher und erträglich für sie war. Das erleichterte die Entscheidung.

Im Februar 1936 wanderte die Familie aus. Die damals gerade sechsjährige Yvonne erinnert sich an eine endlose Bahnfahrt und die vielen Tränen ihrer Mutter, die alles Vertraute hinter sich ließ und in eine ungewisse Zukunft fuhr, in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstand. Pierre sprach ja gut Deutsch und deshalb war für die Familie die Notwendigkeit nicht gegeben, seine Muttersprache zu lernen. Sie wollten ja schließlich an der Saar bleiben.

Edmond blieb im Konvikt in Montigny. Was ihm dort wenig gefiel, war das Einerlei des Küchenzettels. „Immer nur Stampes!“ Das war eine Mischung von Kartoffelpüree und Sauerkraut. Auf die Dauer durchaus nicht sein Leibgericht.

Yvonne war inzwischen schulpflichtig und weil sie „nicht ein einziges Wort Französisch konnte“, musste sie zuerst für kurze Zeit in den Kindergarten, um die Sprache so weit zu lernen, dass sie in der Schule dem Unterricht folgen konnte. Einer der Jungen ihrer Klasse beschimpfte sie als „boche“ („Bosch“). Das war damals ein in Frankreich übliches Schimpfwort für Deutsche. Schlagfertig verpasste ihm Yvonne eine verdiente, nachhaltige Antwort. Danach hat es keiner mehr gewagt, sie „boche“ zu nennen.

Deutsche waren damals verständlicherweise in Frankreich nicht sehr beliebt. Mutter Trina nähte. Es sprach sich in Montbard bald herum: „Wenn du etwas zu nähen hast, geh zur Sarroise (zur Saarländerin), die macht das gut und sehr

preiswert.“ Das Saarland wurde nicht unbedingt mit Deutschland in Verbindung gebracht.

Nach dem Abitur wechselte Edmond von Montigny nach Dijon ins Priesterseminar. Während seines Studiums wurde er für ein Jahr nach Paris geschickt, „damit er sich den deutschen Akzent abgewöhnt“. Am 1. April 1944 wurde er zum Priester geweiht. Zunächst war er als Kaplan in Dijon und dann wurde ihm 1948 die Pfarrei Courcelles-lès-Semur übertragen, die anfangs aus sieben weit verstreut liegenden Dörfern bestand. Im Lauf der Zeit kamen noch einige dazu. Sein Amtsvorgänger starb genau an Edmonds erstem Schultag in

Montigny, also während der gesamten Dauer seiner Gymnasial-, Studien- und Kaplanszeit war die Pfarrei verwaist.

Zu seiner Pfarrei gehörte auch das Dörfchen Vic-de-Chassenay mit dem Schloss Bourbilly aus dem 14. Jahrhundert. Dort lebte die Heilige Johanna Franziska von Chantal und später ihre Großnichte, die Schriftstellerin Marquise de Sévigné. Ich vergesse nicht, mit welch großem Respekt, mit welcher Hochachtung der Schlossherr, Baron de Crépy, von Abbé Edmond Boinet sprach, dem letzten in der Pfarrei residierenden Pfarrer. Er lobte ihn als einen unermüdlichen Seelsorger, der seinen Beruf als Berufung ernst nahm und seine Überzeugung lebte und dem nichts zu viel war für seine Gläubigen.

Einmal erzählte mir Abbé Boinet, dass er in der Nacht zu einem Versehgang gerufen wurde. Das waren 52 km mit der Vespa innerhalb seiner Pfarrei. Die Vespa hatte ihren Platz im Eingang der Kirche. „Dort klaut sie niemand.“ Ob er sie immer abgesperrt hat, wage ich zu bezweifeln.

Wer in Frankreich Priester werden will, braucht kein Armutsgelübde abzulegen. Er wird arm sein. Seit der Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1905 ist der Priesterberuf in Frankreich ein privates Hobby geworden. Für den Staat existieren keine Priester, also kann er auch keine bezahlen. Die Trennung wurde noch in den fünfziger Jahren so strikt beachtet, dass beispielsweise Yvonne trotz guter Noten nicht zum Lehramtsstudium zugelassen wurde, weil ihr Bruder Priester ist.

Es gibt auch keine Kirchensteuer. Der Bischof überweist Geld, wenn er welches hat. So erzählte Abbé Boinet (1955), dass ihm der Bischof „einen größeren Geldbetrag“ überwiesen hat. (Dieser Betrag entsprach einem durchschnittlichen Monatsgehalt eines mittleren Angestellten!) Er fragte, was er denn „mit so viel

Geld“ anfangen solle, worauf der Bischof ihn beruhigte: „Behalten Sie es ruhig. Ich weiß ja nicht, wann ich ihnen wieder etwas geben kann.“

Man sagt, die Franzosen gehen zwar nicht zur Kirche, aber ihre Priester lassen sie nicht verhungern. Jährlich findet eine besondere Kollekte statt. An die Gläubigen werden Umschläge verteilt, die sie mit ihrer Spende („le denier du culte“) zurückgeben. Diese Kollekte ist für die Besoldung der Priester. Einnahmen aus Mess-Stipendien, Sonderkollekten bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen werden an einen Ausgleichsfonds abgeführt und gleichmäßig an alle verteilt.

Eine weitere Sorge der französischen Priester ist der Religionsunterricht. In den staatlichen Schulen gibt es keinen Religionsunterricht, weil er (seit der Trennung von Kirche und Staat) als eine „unzulässige Beeinflussung der Kinder“ angesehen wird. Religion ist eine reine private Angelegenheit und hat in öffentlichen Einrichtungen absolut nichts zu suchen. Religionsunterricht wird außerhalb der üblichen Unterrichtszeit, also in der Freizeit der Kinder erteilt, meist in der Kirche oder – im Winter – in der Sakristei.

Der Unterhalt der Dorfkirchen ist Sache der Gemeinde. Und manche Gemeinde ist mit der Pflege eines Erbes aus dem

Mittelalter einfach finanziell überfordert. Deshalb sind viele dieser schönen kleinen romanischen Kirchen in einem jämmerlichen Zustand. So wandte sich Abbé Boinet eines Tages an den Bürgermeister:

„Herr Bürgermeister, ich muss mit Ihnen reden.“ Er hielt sich nicht gern mit langen

Vorreden auf. „Das Dach der Kirche ist schadhaft und muss repariert werden. Es regnet schon rein.“

„So, Dach der Kirche schadhaft und muss repariert werden?“ Der Bürgermeister zog die Mundwinkel verächtlich nach unten und legte den Kopf in den Nacken, um sich einen Anschein von Überlegenheit zu geben.

„Hör Sie mal zu, Pfarrer. Lassen Sie mich mit Ihrem Kirchendach ein für alle Mal in Ruhe. Die Gemeinde hat kein Geld. Und für etwas derart Überflüssiges wie die Kirche schon gar nicht. Die brauchen wir nicht. Wir haben Wichtigeres zu tun. Zudem, nächstes Jahr sind Sie ohnehin nicht mehr Pfarrer in Courcelles.“

„Vorsicht, Herr Bürgermeister. Nun hören Sie mir mal gut zu, was ich Ihnen jetzt sage. Nächstes Jahr sind Wahlen. Bürgermeisterwahlen. Vergessen Sie das nicht. Danach bin ich immer noch Pfarrer in Courcelles, aber Sie mit Sicherheit nicht mehr Bürgermeister.“

„So, meinen Sie? Das wollen wir mal sehen.“

„Das werden wir sehen, verlassen Sie sich drauf.“

Der Wahltag kam. Auch in Courcelles wurde gewählt. Der neue Bürgermeister ließ noch vor dem Winter das Dach der Kirche reparieren. (Waren das Don Camillo und Pepone?)

So wie gegen Ende des 1. Weltkriegs französische Gefangene im Röhrenwerk in Bous arbeiteten, so waren jetzt deutsche Gefangene im Werk Montbard beschäftigt. Unter ihnen sprach sich herum, dass in der Nähe des Werks eine deutsche Familie sei. Mutter Trina kochte fortan sonntags für viele. Zwei von ihnen mit handwerklichem Geschick haben die Kirche in Courcelles komplett neu gestrichen. (Heute hätte sie es wieder dringend nötig!) Die Kreuzwegstationen haben sie nach bestem Wissen wieder angebracht, allerdings in der umgekehrten Reihenfolge. In Courcelles dürfte die einzige Kirche sein, in der der Kreuzweg entgegen dem Uhrzeigersinn gebetet wird (oder gebetet werden kann).

An einem Sonntag stand Edmond Boinet vor dem Haus seiner Eltern in Montbard, als ein einzelner Spaziergänger die Straße heraufkam. Nach der Kleidung müsste es ein Gefangener sein. Der Mann kam näher und Edmond traute seinen Augen nicht. Vor ihm stand ein Klassenkamerad von der Volksschule in Bous. Er war als Gefangener auf einem Bauernhof bei der Abtei Fontenay beschäftigt. Jeden Sonntag, wenn er nicht arbeiten musste ging er durch Montbard spazieren, meistens durch diese Straße zum Kanal hin, ohne zu ahnen, dass da ehemalige Landsleute wohnen. Er stammte von der Papiermühle.

Edmond Boinet starb am 18. Oktober 1960 im Alter von gerade mal 40 Jahren. Sein Seelsorgebezirk umfasste zu der Zeit 5 Kirchen für 1.200 Gläubige in 15 Dörfern. Als Geste der Dankbarkeit der Gemeinde für den unermüdlichen Seelsorger, den schlichten, bescheidenen Landpfarrer, wurde nun der Platz neben der Kirche „Square Edmond

Boinet“ benannt. (Seine ebenfalls in Bous geborene Schwester Yvonne Carrara

enthüllte die Gedenkplakette.) Auch nach fünfzig Jahren erinnerten sich einige Mandatsträger: „Ich war Messdiener bei ihm.“ „Ich war bei ihm im Kommunionunterricht.“ „Mich hat er getraut.“

Bürgermeister Gilsanz ging in seiner Laudatio auf die Etappen des Lebens und Wirkens des Pfarrers ein. Mit Humor wies er auch auf die historische und soziologische Entwicklung der Gemeinde hin.

„Nach dem Weggang des letzten Pfarrers vor fünf- zig Jahren und nachdem der letzte Lehrer vor sechs Jahren das Dorf verlassen hat, bleibt von dem traditionellen Trio, das es früher in jedem

französischen Dorf gab, nämlich der Bürgermeister, der Lehrer und der Pfarrer, nur noch einer übrig: natürlich der Bürgermeister.“

Paul Endres