Am 7. Februar 2024 jährt sich zum 62. mal das Grubenunglück von Luisenthal.
Dazu die Erinnerung des Zeitzeugen Alfred Schon aus Bous an den 07. Februar 1962.
Nachdem ich bei der Firma Mannesmann in Bous im Oktober 1956 meine Elektrolehre mit der Gesellenprüfung abgeschlossen hatte, fuhr ich im Januar 1957 auf der Grube Luisenthal als Elektriker unter Tage an. Seit Frühjahr 1960 besuchte ich die Bergvorschule in Luisenthal und befand mich im 3. Semester der Ausbildung zum Elektrosteiger. Ich war z. Zt. des Unfalls als Elektro-Hauer im Alsbachfeld beschäftigt. Da ich als „Schüler“ kein festes Revier haben konnte, kam ich im gesamten Alsbachfeld zum Einsatz. Dadurch waren mir die örtlichen Verhältnisse des ganzen Feldes gut bekannt.
Am Morgen des Unglücks war ich mit meinen Klassenkameraden in der Bergvorschule beim Unterricht. Das Schulgebäude stand ca. 100 m vom Zechentor der Grube Luisenthal entfernt. Vielleicht gegen 8.30 Uhr, an die genaue Zeit kann ich mich nicht mehr erinnern, hörte man im Klassenraum fortwährend Martinshorn-Geräusche aus dem Bereich der Grube kommend. Plötzlich sagte einer meiner Mitschüler laut in den Klassenraum: „In Luisenthal muss etwas passiert sein“. Wir sprangen alle sofort auf und liefen zum Eingang des Grubengeländes. Dort war große Hektik zu erkennen. Kranken- und Rettungswagen fuhren ein und aus. Die ersten Menschen versammelten sich vor dem Zechentor. Ich konnte erfahren, dass es unter Tage im Alsbachfeld ein „Großes Unglück“ gegeben hat. Etwas Genaues wusste niemand. Nach einer gewissen Zeit gingen wir in die Bergvorschule zurück. An einen normalen Unterricht war nicht mehr zu denken. Wir diskutierten mit unseren Lehrern über Art und Auswirkung einer evtl. Grubengasexplosion. Über die wahren Ausmaße des damaligen Unglücks konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellungen machen.
Nach Unterrichtsschluss fuhr ich mit dem Zug nach Hause und schaltete sofort das Radio ein. Ich meine mich zu erinnern, dass erst kurz vor oder nach 11.30 Uhr der Rundfunk erstmals die Unglücksmeldung durchgab und auf Trauerweisen umschaltete. Nach dem Essen, sagte ich meiner Mutter, dass ich wieder nach Luisenthal fahren würde. Sie versuchte mich davon abzuhalten und hatte große Angst, dass mir was passieren könnte. Da ich jedoch darauf bestand zur Grube zu fahren um mich vor Ort zu informieren, musste ich ihr versprechen, nicht nach unter Tage einzufahren.
Sie machte mir noch ein „Schichtenbrot“ und verabschiedete mich mit größten Sorgen, wie sie mir später sagte.
Vor dem gesperrten Zechentor in Luisenthal war eine große Menschenmenge versammelt. Angehörige weinten oder erkundigten sich nach ihren Verwandten oder Bekannten. Man sprach von etlichen Toten und Verletzten. Niemand wusste etwas Genaues, Vermutungen wurden geäußert, es herrschte Chaos.
Gegen 14.30 Uhr erfolgte am Zechentor ein Aufruf, dass Freiwillige gesucht werden, um zu helfen die verunglückten Bergleute unter Tage zu bergen. Ich habe mich spontan gemeldet. Dass es zu diesem Zeitpunkt ausschließlich um die Bergung toter Kameraden ging, haben wir erst später erfahren. Alle verletzten Bergleute waren bereits bis 13.00 Uhr geborgen.
Nachdem wir „Freiwillige“ uns umgezogen hatten, fuhren wir am Richardschacht II auf die 4. Sohle ein. Im Alsbachquerschlag, auf dem Weg zum Alsbachfeld, steckte ich mein mitgebrachtes Schichtenbrot in den seitlichen Ausbau. Ich war der Meinung, dass ich an diesem Tag sowieso nichts essen könnte. Da ich bisher noch nicht mit Toten unter Tage konfrontiert worden war, bereitete ich mich während des Fußmarsches im Querschlag innerlich auf die mir bevorstehende Begegnung mit toten Kameraden vor. Ich bin davon überzeugt, dass diese „seelische Vorbereitung und die dadurch erzielte innere Stabilität“ für die spätere Bewältigung dieser Tagesereignisse eine große Hilfe für mich war.
Nachdem wir an der Ladestelle 3 DEF angekommen waren, erhielten wir die Anweisung, die Verunglückten aus Streb 3 F zu bergen. Die Bergungsgruppe, zu der ich von Obersteiger Heinrich Duchene eingeteilt wurde, bestand aus vier Mann. Zu ihr gehörte auch der mit mir gut befreundete Grubensteiger Heinz Schröder aus Bous. Aus Sicherheitsgründen begleitete unsere Gruppe ein Mitglied einer Rettungsmannschaft. Mit einem leeren Schleifkorb machten wir uns auf den Weg durch die Bandstrecke, den ansteigenden Förderberg hinauf, um schließlich in den Streb 3 F zu gelangen. Ungefähr in der Mitte des ca. 180 m langen Strebes stand die Schrämmaschine. Der tote Bergmann, den wir bergen sollten, lag im Förderpanzer, direkt hinter der Schrämmaschine. Wir nahmen den Toten auf, legten ihn in den Schleifkorb und schnallten ihn darin fest. Nun begann der mühselige und beschwerliche Abstieg zur Ladestelle. Wir mussten zunächst ca. 90m durch den eigentlichen Streb. Dann ging es etwa 400 m steil bergab durch den Förderberg. In ihm mussten wir mit unserer traurigen Fracht mehrmals über das, bedingt durch die Explosions-Druckwelle, kreuz und quer in der Strecke liegende Band, über kleinere Brüche und sonstige Hindernisse klettern. Durch die sich anschließende, ca. 170m lange Bandstrecke, erreichten wir wieder den Alsbachquerschlag. Nachdem wir den Verunglückten in dem bereitstehenden Zug in einem Leerwagen abgestellt hatten, ruhten wir uns völlig verausgabt im Bereich der Ladestelle aus. Bei der hier eingerichteten Verpflegungsstelle versorgten wir uns mit Essen und Getränken. Entgegen meiner früheren Vermutung, hatte ich nun doch Hunger bekommen.
Während meines Aufenthaltes im Bereich der Ladestelle, traf ich mit dem Elektrosteiger Eduard Augustin, einem gebürtigen Bouser, zusammen. Nach kurzer Begrüßung forderte er mich auf, ihn zum Stapel 421 zu begleiten. Unterwegs dorthin klärte er mich auf, dass er den Auftrag hätte den Stapel 421 wieder in Betrieb zu nehmen. Da der Alsbachschacht im oberen Teil stark beschädigt und somit nicht fahrbereit sei, sollten die verunglückten Bergleute der 2. Sohle über den Stapel 421 geborgen werden.
An der Trafostation 421 trafen noch 2 oder 3 Elektrikerkollegen ein, unter ihnen mein damaliger Kollege Willibald Kuhn. An die Namen der anderen kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir stellten vor Ort fest, dass die 5 KV Anlage ausgeschaltet war. Die nachgeschaltete 500 V Anlage der Stapeleinrichtung wurde von uns zunächst nach eventuellen mechanischen Schäden visuell überprüft. Nachdem wir keine Schäden an den elektrischen Einrichtungen feststellen konnten, begannen wir nun mit einem Kurbelinduktor die 500 V Anlage durchzumessen. In der damaligen Situation waren wir äußerst vorsichtig und misstrauisch und wiederholten die Messung mehrmals. Als wir uns dann ganz sicher glaubten, schalteten wir den 5 KV Schalter und damit den nachgeschalteten Trafo mit der 500 V Anlage ein. Da wir befürchteten, dass Geräte der Signalanlage im Bereich der 2. Sohle evtl. mechanisch beschädigt sein könnten, wurde die Signalanlage nicht eingeschaltet. Der Stapel 421 war nun fahrbereit. Nach mehrmaligem Probefahren gab der Stapelfahrer den Stapel bedingt zur Seilfahrt frei. Da keine elektrische Signalanlage zur Verfügung stand, erfolgten die Seilfahrtbefehle durch den „Schachthammer“ über Seilzug. Mit Steiger Augustin fuhr ich mit der ersten Seilfahrt nach dem Unglück auf die 2. Sohle.
Auf der 2. Sohle empfing uns das wahre Grauen. In direkter Umgebung des Stapels lagen etliche verunglückte tote Bergleute, teilweise mit sehr starken Verstümmelungen. Darunter auch einige meiner Elektrikerkollegen. Dazu gehörte auch der Elektro-Umschüler Johann Karrenbauer aus Bous, dessen Leiche erst sehr spät identifiziert werden konnte. Ich meine mich zu erinnern, dass am Stapel eine Schachttür fehlte, die wahrscheinlich durch die Explosion in den Schacht geschleudert worden war. Bei dem ganz in der Nähe befindlichen Elektro-Schaltraum war die Eingangstür teilweise aus der Verankerung gerissen. Die abschließende Wand zum Stapel 421 war eingedrückt und in den Schacht gestürzt. Man konnte überall die verheerende Wirkung der Explosion erkennen. Nach einer gewissen Zeit ging ich durch den Umbruch der zur Richtstrecke 23 und zum Alsbachschacht führte. Ich wollte sehen, wie es in diesem Bereich aussieht. Die Streckenbeleuchtung war natürlich überall ausgefallen, in den Strecken war alles durch die Explosionsflamme geschwärzt und der Lichtstrahl der Kopflampe wurde regelrecht im Dunkeln verschluckt. Immer wieder stieß ich auf tote Bergleute. Eine makabre Begegnung hatte ich im Umbruch bzw. im Bereich der Richtstrecke 23. Durch die Explosion war das Beleuchtungskabel, das im Streckenfirst aufgehängt war, aus einigen Aufhängungshaken herausgefallen und hing in einer Schleife bis ca. 1,5 m über der Sohle in der Strecke. Ein verunglückter Bergmann hatte, offensichtlich unmittelbar vor seinem Tod, beide Arme über das Kabel gelegt um evtl. Halt zu finden. So fand ich ihn, in den Knien eingeknickt, in der Strecke stehen.
Irgendwann am Abend sagte mir mein Elektrikerkollege, Willibald Kuhn, dass sein Bruder Manfred nicht nach Hause gekommen wäre und er vermutet, dass er unter den Toten sei. Er wollte ihn suchen gehen. Manfred Kuhn war mir persönlich bekannt. Wir wussten, dass er als Hauer im Revier 1C/D beschäftigt war. Weil Willibald Kuhn seit der Frühschicht unter Tage war und seine Kopflampe bereits sehr trüb leuchtete, ging ich mit ihm seinen Bruder suchen. Ob er mich darum gebeten hatte oder ob ich mich angeboten hatte, weiß ich heute nicht mehr.
Vom Stapel 421 gingen wir zunächst in die Richtstrecke 21. Kurz hinter dem Stapel, auf der rechten Streckenseite, waren ca. 10 bis 15 tote Bergleute nebeneinander auf Blastuch abgelegt. Sie waren vorher von Rettungsleuten in diesem Bereich geborgen und zusammen abgelegt worden, um sie später über den Stapel 421 zur 4. Sohle zu bringen. Dann kamen wir zur Einmündung des Querschlags 212 in die Richtstrecke 21. Vom Eingangsbereich des Querschlags waren sehr viele Lichter in der Strecke zu sehen. Ich war zunächst der Meinung, dass sich Männer der Rettungsmannschaft dort aufhalten würden. Als wir näher kamen, sahen wir, dass es ausschließlich die Kopflampen von tödlich verunglückten Bergleuten waren. Es waren die Beschäftigten aus den Abbaurevieren 1C und 1D. Sie waren nach dem Unglück offensichtlich auf dem Weg zum Schacht und sind dabei in die tödlichen Explosions- und Brandschwaden gelaufen. Da wir den vermissten Manfred Kuhn suchten, mussten wir jedem Toten, der in der Strecke lag, ins Gesicht leuchten um ihn zu erkennen. Alle Verunglückte, die auf dem Bauch lagen, wurden von Willibald Kuhn umgedreht, um ihr Gesicht zu sehen. Viele der toten Bergleute erkannten wir. So z.B. blieb mir in Erinnerung, dass auf der linken Seite auf der Rohrleitung ein Toter, mit dem Rücken am Ausbau abgestützt, aufrecht saß und mich anschaute. Es war der mir gut bekannte Bergmann „Petter Petter“, der sich in der Waschkaue in der Nähe von mir umzog. Ich kannte nur seinen Spitznamen, sein richtiger Name ist mir bis heute nicht bekannt. Die meisten Verunglückten, die wir vorfanden, hatten einen roten Blutschaum vor dem Mund. Andere hatten noch ihren Selbstretter vorschriftsmäßig angelegt. Bei wieder anderen konnte man feststellen, dass sie im letzten Moment, als sie keine Luft bzw. Sauerstoff mehr zum Atmen bekamen oder aber das Mundstück zu heiß wurde, in ihrer Panik versucht hatten den Selbstretter vom Mund wegzureißen.
So kamen wir bis zum Ende des Querschlags 212 wo es in einer scharfen Kurve in den ansteigenden Förderberg 1D ging. Wir sind noch ein kurzes Stück in den Förderberg vorgedrungen, wie weit genau kann ich nicht mehr sagen. Bis zu dieser erreichten Stelle hatten wir auf der Suche nach Manfred Kuhn, in die Gesichter zahlreicher toter Bergleute blicken müssen. Auch vor uns im Förderberg sahen wir noch sehr viele Lampen von Verunglückten brennen. W. Kuhn und ich waren zu dieser Zeit in diesem Streckenbereich die einzigen Lebenden unter all den toten Kameraden.
Für mich wurde die nervliche Belastung langsam unerträglich. Ich plädierte die Suche abzubrechen. Wie es im Innern von Willibald Kuhn aussah weiß ich nicht, aber er stimmte mir zu, wir brachen die Suche ab und kehrten um. Wir verließen das Revier 1 D und gingen ohne seinen Bruder gefunden zu haben zum Stapel 421 zurück.
Auch die beiden, mir persönlich gut bekannten Bouser Bergleute, Alois Leinenbach und Lothar Römmert, waren im Revier 1 C/D beschäftigt und sind dort zu Tode gekommen. Da wir auch sie während unserer Suche nicht gefunden hatten, gehe ich davon aus, dass sie weiter oben im Förderberg verunglückt sind.
Die spätere Untersuchung des Unglücks ergab, dass insgesamt 99 Bergleute im Querschlag 212 und im Förderberg 1D, den Tod durch Sauerstoffmangel bzw. durch CO-Vergiftung erlitten hatten.
Gegen 22.30 Uhr bin ich am Richardschacht II ausgefahren und war gegen 24.00 Uhr wieder zu Hause in Bous.
Allen Beteiligten, die bei der Bergung von Toten bzw. Verletzten an diesem Tag im Einsatz waren, wurde keinerlei Unterstützung zur Bewältigung des Erlebten angeboten. Jeder Einzelne musste die zum Teil schrecklich eingeprägten Bilder ohne Hilfe selbst verarbeiten.