Werner Reusch erklärt anschaulich und lebendig die Ortsgeschichte.
Eugen Weber aus Cleeberg ist einer der zahlreichen Zeitzeugen
Pohl-Göns (ikr). Mehr als 100 Menschen folgten am Samstagnachmittag der Einladung des Heimatforschers Werner Reusch aus Ebersgöns zu einem bewegenden Rundgang durch Pohl-Göns. Anlass war der 80. Jahrestag des Kriegsendes 1945 – ein Gedenktag, den Reusch mit eindrücklichen und berührenden Geschichten aus der Region füllte. Im Mittelpunkt standen dabei die Schicksale junger Menschen, die zwischen 1933 und 1945 Opfer eines unmenschlichen Systems wurden. Schon die erste seiner Geschichten, die vom damals 16-jährigen Eugen Weber aus Cleeberg handelte, dokumentierte dies.
„Es ist nicht nur ein Rückblick – es ist eine Mahnung“, sagte Reusch gleich zu Beginn der Führung. Der Zweite Weltkrieg sei mit etwa 60 Millionen Toten die schlimmste Katastrophe der Menschheitsgeschichte gewesen. Auch Pohl-Göns und die umliegenden Ortschaften seien nicht verschont geblieben. Reuschs Ziel: die Erinnerung wachhalten, besonders für die junge Generation. Der Rundgang begann am Bürgertreff, führte durch die Bärengasse, den Springerweg, die Rechtenbacher Straße, über den Friedhof und endete vor der Synagoge in der Gießener Straße.
Eugen Weber aus Cleeberg, Jahrgang 1929, war gerade einmal 16 Jahre alt, als er im März 1945 von der Hitlerjugend beauftragt wurde, gemeinsam mit Walter Morgel nach Bielefeld zu fahren – mitten hinein in die letzten Kriegstage. Ziel war es, sechs schwere Mustergeschosse aus einem Panzerwerk zu holen. Die Reise war gefährlich und chaotisch: Bombenangriffe, zerstörte Bahnlinien, Nächte im Freien und ein Weg, der sie 280 Kilometer weit durch ein zerbombtes Deutschland führte – ohne Geld, ohne Begleitung, ohne jegliche Sicherheit. Schließlich erhielten die Jungen nur je ein 50 Pfund schweres Geschoss – das sie auch auf dem Rückweg bei Fliegeralarm mit sich tragen mussten. Zurück in Cleeberg wurden die Sprengkörper kurzerhand auf dem Misthaufen der Familie Weber versteckt. „Koan Ami kimmd off den Gedanke, doas hai eam Measthoafea Granate laijea“, habe die Großmutter damals gesagt. Recht sollte sie behalten: Die Amerikaner durchsuchten das Gelände nicht. Sechs Monate später wurden die Geschosse verschrottet. Heute, mit 96 Jahren, sagt Eugen Weber über das Erlebte: „Das würde heute kein Jugendlicher mehr freiwillig machen.“
Wie tief die nationalsozialistische Ideologie in den Alltag eindrang, zeigte Reusch anhand zahlreicher lokaler Beispiele. Schon Kinder im Grundschulalter wurden mit der Aussage „Die Juden sind unser Unglück“ indoktriniert. Die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel (BDM) wurden zu zentralen Erziehungsinstanzen. Befehl, Gehorsam und militärische Vorbereitung bestimmten den Alltag. Viele dieser Kinder kämpften – und starben – noch in den letzten Kriegstagen im Volkssturm.
Doch Reusch erinnerte nicht nur an Leid, sondern auch an Mut. So versorgten Frauen wie Anna Röhrig und Katharina „Dine“ Jeide jüdische Nachbarn heimlich mit Lebensmitteln – trotz der tödlichen Gefahr. Durch ein Loch in der Stallmauer, lose mit Steinen verschlossen, wurden Lebensmittel durchgereicht. „Diese stille Hilfe war ein Akt der Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit“, so Reusch. Eindrucksvoll schilderte ihm auch Elli Weber ihre Erinnerungen: Vom Fliegeralarm während des Gänsebratens an Heiligabend, dem Einmarsch amerikanischer Soldaten bis hin zum Alltag mit Angst, Improvisation und menschlicher Stärke. Szenen, in denen Menschen Mut bewiesen – wie Richard Volk, der mit seinem Gewehr zwei Feldjäger in die Flucht schlug, als sie einen Nachbarn beschuldigten, eine weiße Fahne aufgehängt zu haben. Die bewegenden Schilderungen machten deutlich, wie tief die Spuren des Krieges auch im dörflichen Leben verwurzelt sind. Geschichten wie die von Liesel Morkel, die am Tag nach ihrem achten Geburtstag amerikanische Panzer durch die Rechtenbacher Straße rollen sah, oder von Werner Rühl, der mit 15 Jahren in Frankfurt Leichen aus Trümmern bergen musste, zeigen: Der Krieg war nicht irgendwo – er war mitten unter uns.
„Wir dürfen nie vergessen, dass es Kinder waren, die dieser Wahnsinn verschlang“, sagte Reusch am Ende der Führung. Mit seiner engagierten Erinnerungskultur leistet er einen unschätzbaren Beitrag dazu, das Geschehene nicht zu verdrängen – und zu zeigen, wie wichtig Zivilcourage, Mitgefühl und ein wacher Geist in jeder Zeit sind. Dazu hat Reusch über viele Jahre immer wieder intensive Gespräche mit Zeitzeugen geführt, akribisch festgehalten und in mehreren Büchern veröffentlicht. Unzählige Stunden hat der Ebersgönser dafür investiert.
Eine besonders bewegende Station des Geschichtsgangs durch Pohl-Göns war der Friedhof: Dort erinnerte Werner Reusch nicht nur an viele Verstorbene, sondern auch an die dramatischen Umstände der Geburt seiner Cousine Traudel. Am 28. Februar 1945 kam sie im Keller eines Hauses in Kirch-Göns zur Welt – während draußen Fliegeralarm herrschte und Tiefflieger über die Dächer donnerten. Die Geburt war kompliziert, die Lage des Kindes kritisch. Emmi, ihre Mutter, war allein unter Frauen und ahnte nicht, dass ihr Mann Johann wenige Tage zuvor im Krieg gefallen war. Traudel ist eines jener Kriegskinder, die ihren Vater nie kennenlernen durften – ihr Schicksal steht exemplarisch für das Leid vieler Familien jener Zeit.
Zum Abschluss wurde bewusst die ehemalige Synagoge als letzter Halt gewählt – ein Ort mit bewegter Geschichte, der 2026 sein 100-jähriges Bestehen feiern wird. Besonders berührend war die Erinnerung an ein erhaltenes Glaskristall vom Deckenleuchter, das ein Junge nach der Reichspogromnacht rettete. Es steht symbolisch für Hoffnung und den Wunsch, eines Tages wieder einen Leuchter mit vielen Kristallen in der Synagoge erstrahlen zu lassen. Wer dieses Vorhaben unterstützen möchte, das Werner Reusch, Andreas Catlin und Martin Jung sich zum Ziel gesetzt haben, fand am Ausgang ein Spendenkästchen.
80 Jahre nach dem Ende des Krieges bleibt das Erinnern Aufgabe aller. Werner Reusch hat daran eindrucksvoll gemahnt.
Zu Beginn hatte Catlin im Namen der Ortsvereine die Teilnehmer begrüßt und Werner Reusch für sein langjährige Engagement gedankt, die Vergangenheit lebendig und für die Nachwelt zu erhalten. Im Anschluss gab es am Bürgertreff bei Gegrilltem in geselliger Runde Gelegenheit, den Rundgang noch einmal Revue passieren zu lassen.
Über 100 Teilnehmer lauschen den Ausführungen von Werner Reusch