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Heimatblatt Langgöns
Ausgabe 22/2025
Heimatblatt
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„Die Hose bleibt an“ – Heimatforscher Werner Reusch über verdrängte Schicksale in Pohl-Göns

Erntebild mit einem Selbstbinder in Kirch-Göns von 1944. Von links der Pole Stanislaus Machala, daneben Tilla Hanack, geb. Wagner und Irene Müller, geb. Wagner

Rechtenbacher Straße 29, um 1948: Von der Scheune aus floh der Mann im Juli 1944. Beim Versuch, über die Mauer zu klettern, wurde er erschossen. Das Gebäude wurde 1985 abgerissen

Reitergruppe der SA-Langgöns am 1.5.1935 in der damaligen Moorgasse, heute Am Mühlberg

Gedenken am Denkmal in Pohl-Göns (v. l.): Martin Jung, Bürgermeister Sascha Huber, Werner Reusch und Andreas Catlin

Pohl-Göns (ikr). Es ist eine Szene, die sich tief ins Gedächtnis brennt: Ein russischer Kriegsgefangener, ausgemergelt, verzweifelt, auf der Suche nach etwas Essbarem. Im Juli 1944 wird er in Pohl-Göns auf einem Hof in der Rechtenbacher Straße überrascht, läuft davon – und wird auf der Flucht von hinten erschossen. Über achtzig Jahre später erzählt der Ebersgönser Heimatforscher Werner Reusch diese Geschichte. Nicht zum ersten Mal. Aber mit einer Eindringlichkeit, die selbst heute noch betroffen macht.

Reusch forscht seit Jahren zur jüngeren Geschichte der Region – mit besonderem Augenmerk auf die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegsjahre. Drei Bücher hat er darüber veröffentlicht, unzählige Gespräche geführt, Zeitzeugen befragt und Berichte zusammengetragen, die oft tief ins Verborgene führen – zu jenen Kapiteln, über die lange geschwiegen wurde.

So wie über das Schicksal des unbekannten russischen Kriegsgefangenen, der 1944 in Pohl-Göns sein Leben verlor. Wochenlang war es zu Einbrüchen gekommen – Brot, Milch, Decken verschwanden aus Ställen und Küchen. Die leeren Gefäße fand man später in Getreidefeldern. Schnell war klar: Es musste sich um einen aus dem Lager entflohenen Kriegsgefangenen handeln, der aus purer Not stahl.

Reusch schildert die Ereignisse eindrucksvoll: Wie sich der Mann in einem Reisighaufen versteckte, wie er entdeckt und im Fluchtversuch über eine Mauer tödlich getroffen wurde. Noch am selben Tag sprach sich sein Tod im Dorf herum – viele Kinder, auch der damals achtjährige Friedel Herbel, wollten den leblosen Körper sehen, der in einem Nebenraum des Hauses lag. Der Tote wurde heimlich auf eine Leiter gelegt, nackt, um seine Identität zu verschleiern, und zum Friedhof getragen. Dort liegt er bis heute – ohne Namen, ohne Kreuz, begraben hinter einer Hecke am Rand.

Über dieses Ereignis, so Werner Reusch, und vor allem wer den Kriegsgefangenen erschossen hat, wurde über Jahre nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. „Es wäre eine würdige Geste, diesem Kriegsgefangenen ebenfalls ein Kreuz zu setzen“, sagt Reusch. „Damit er nicht länger vergessen bleibt.“

Vergessen war auch fast die Geschichte von Stanislaus Machala, einem polnischen Zwangsarbeiter, der 1940 als 18-Jähriger nach Kirch-Göns kam. Er arbeitete bei der Familie Müller, war fleißig, wurde schnell unentbehrlich. Doch auch er geriet in Konflikt mit dem Regime – wegen einer alten SA-Hose: Als ihn ein Wachmann, derselbe, der später den russischen Gefangenen erschießen sollte, in dieser Hose sah, forderte er deren sofortige Herausgabe – unter Androhung von Gewalt. Der Hausbesitzer Wilhelm Wagner stellte sich schützend vor Stanislaus. „Die Hose bleibt an“, sagte er. Der Wachmann zog die Pistole, hielt sie ihm an den Kopf. Nur das Eingreifen von Nachbarn konnte die Eskalation verhindern.

Reusch nennt dieses Ereignis ein Beispiel für Zivilcourage im Kleinen – in einer Zeit, in der Wegsehen oft bequemer war. Der besagte Wachmann taucht in weiteren Erzählungen auf. Beim Aufladen toter Tiere nach einem Bombenabwurf in der Taubgasse 1944 schlug er auf die Zwangsarbeiter ein, weil ihm die Arbeit zu langsam ging. Nach dem Krieg wurde er von Polen und Russen gesucht – vergeblich. Ein linientreuer NSDAP-Mann versteckte ihn offenbar längere Zeit im Keller.

Auch Liebesgeschichten erzählt Reusch – die ungewöhnlichen, die heimlichen. Wie die von Stanislaus und der Ukrainerin Anna, die als Arbeitskraft in der Kirchgasse 6 eingesetzt war. Kratzspuren an der Hauswand gaben nach dem Krieg Rätsel auf. Erst später kam heraus: Anna ließ nachts ein Seil aus dem Fenster, Stanislaus kletterte heimlich hinauf zu ihr. Nach Kriegsende heirateten die beiden in Gießen, zogen nach Polen, bekamen drei Töchter. Jahrzehnte später, 1988, schrieb Stanislaus Briefe an die Familie Müller – bat um eine Bescheinigung über seine Arbeitszeit. Er war 66 Jahre alt, seine Frau bereits verstorben. Ein Wiedersehen mit der Familie Müller hat es nie gegeben.

Diese Geschichten sind es, die Werner Reusch sammelt – mit großer Akribie und noch größerem Einfühlungsvermögen. Sein Anliegen: die Erinnerung wachhalten, jenen eine Stimme geben, die keine mehr haben, und dafür sorgen, dass auch das Unausgesprochene endlich erzählt wird.

Erst kürzlich war Reusch erneut in Pohl-Göns aktiv. Gemeinsam mit Andreas Catlin begrüßte er über 100 Teilnehmer zu einem historischen Ortsrundgang unter dem Titel „Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg“. Ein Höhepunkt der Veranstaltung war eine kurze Andacht und eine Schweigeminute auf dem Friedhof, gemeinsam mit Bürgermeister Sascha Huber und Martin Jung – für die Opfer des Krieges, der Diktatur und des Faschismus. Und für einen namenlosen Mann, der einst an einer Hofmauer erschossen wurde.