Foto der Familie Hanika Anfang der 40er Jahre, Josef ist der zweite von links, daneben seine Schwester Anna und sein Bruder Rudi.
Das zerstörte Königsberg am Ende des Kriegs
Litauen grenzt im Südwesten an Russland, hier der Blick von der Kurischen Nehrung auf russisches Staatsgebiet (die rote Linie markiert den Grenzverlauf).
Kranzniederlegung 2015 in Clouange, der lothringischen Partnergemeinde von Langgöns (v. l.): Josef Hanika, Martin Hanika und der Clouanger Bürgermeister
Von Imme Rieger
Langgöns / Oberkleen. Es ist ein kalter Dezembertag im Jahr 1944, als Josef Hanika, gerade 17 Jahre alt, am Bahnsteig in Poschitz Abschied nimmt. Seine Mutter drückt ihm noch einmal die Hand, dann verschwindet ihr Sohn im kleinen Waggon wie viele junge Männer, die in diesen Tagen an die Ostfront abkommandiert werden. Im Januar 1945 wird Josef schwer verwundet aus der Kesselschlacht im Baltikum gerettet – durch einen Granatsplitter verliert er ein Auge. Aber die Verletzung lässt ihn den Krieg überleben, während nur wenige seiner jungen Kameraden dem Inferno entkommen. Die verbleibende Lebenserwartung der mit ihm Eingezogenen - fast alle noch Schulbuben in seinem Alter - betrug nur wenige Tage.
80 Jahre später, während gerade wieder deutsche Soldaten ins Baltikum entsandt werden, fragt sich sein Sohn Martin, was sein vor wenigen Jahren verstorbener Vater wohl zu den aktuellen Entwicklungen gesagt hätte. Martin Hanika, heute 70 und seit Jahrzehnten in seinem Heimatort Langgöns und im Landkreis Gießen gesellschaftlich engagiert, blickt zurück auf das Leben seines Vaters: Er hat langjährige Spurensuche betrieben, gemeinsam mit seinem Vater dessen ehemaligen Heimatort besucht, die kleine Bahnstation, das wieder mondäne Karlsbad, aber auch die Orte im Baltikum. Sie waren gemeinsam im jetzt russischen Kaliningrad, dass einmal Königsberg hieß, in Litauen und an der Kurischen Nehrung. Für ihn ist die Geschichte seines Vaters eine, die in vielem für eine ganze, für seine, Generation steht, „und es ist eine eindringliche Mahnung an uns und an die Verständigungsbereitschaft der Menschen und Völker“.
Josef Hanika wird 1927 in Poschitz im Egerland geboren. Die Kindheit auf dem Bauernhof ist geprägt von der elterlichen Landwirtschaft, vom Hüten des Viehs, von der Liebe zur Natur, zur Musik und seinen Büchern. Idyllisch wird es nicht immer gewesen sein, es änderte sich abrupt mit dem Krieg bereits in der Karlsbader Schule. Als Jugendlicher erlebt er dort die ersten Fliegeralarme, muss die Schule verlassen und wird im Winter 1944/45 an die Front im Baltikum geschickt: „Abkommandiert, mitten im Schuljahr, ohne Abschluss und Begeisterung“, erzählt der Sohn. Bei Kriegsbeginn war er elf Jahre alt, bei der Musterung 16, sein jüngerer Bruder ebenso. Auf seinem letzten Weg zur Bahnstation wurde er begleitet von seiner Mutter. „Oft habe ich mich gefragt, was meiner Großmutter wohl auf ihrem Heimweg nach dem Abschied an der Station durch den Kopf gegangen ist“, sagt Martin Hanika.
Josef hat den Marschbefehl an die Ostfront im Norden und erreicht im Januar 1945 die Region Königsberg, bei strengem Frost, auch in den Stiefeln. Der Kampf gegen die heranrückende Rote Armee ist schon lange aussichtslos, die ostpreußische Zivilbevölkerung aber, die Frauen, Kinder und die Alten, sind da noch eingesperrt. Und deren andauernde Flucht ist nur über die teilweise zugefrorene Ostsee möglich.
Ende Januar wird Josef durch Granatsplitter einer russischen Panzergranate schwer verwundet – sein rechtes Auge ist verloren. Die Verletzung rettet ihm aber sein Leben. Mit viel Glück erreicht er im Februar 1945 mit einem Lazarettzug den Hafen von Pillau, und entkommt nur wenige Tage nach dem Untergang der „Wilhelm Gustloff“ auf der Ostsee auf der gleichen Route in Richtung Kiel dem Krieg in Ostpreußen. Von der Versenkung durch Torpedobeschuss und Tausenden Toten hatte er im Hafen gehört. „Als ich ihn einmal fragte, warum er trotzdem aufs Schiff gegangen sei, antwortete er ganz einfach: ‚Was war denn die Alternative?‘“ Die dort verbliebenen Reste seines Regimentes „werden völlig aufgerieben“, wie man sagte. Auch das bedrückt ihn sein Leben lang. In hohem Alter noch legt er auf einem Soldaten-Ehrenmal in Lothringen einen Kranz nieder.
Als er im Dezember 1945 aus britischer Gefangenschaft entlassen wird, kann Josef keinen Heimatort nennen, die Zeile im Entlassungsschein bleibt leer. Er hat seine Heimat verloren, eine andere kennt er nicht. Auf der Suche nach seiner Mutter und Schwester, die aus Poschitz vertrieben wurden, erfährt Josef, dass die beiden in Oberkleen sind. Dort steht er im April 1946, auf dem Hof eines Bauern, kommt dort unter und schläft fortan im Bett des Sohnes, der im Krieg gefallen ist. Er verdient sich Geld bei Helferarbeiten, auch für die lebensnotwendigen Bezugsmarken, absolviert eine Maurerausbildung, studiert Bauingenieur und macht sich später selbstständig. In den 1950er-Jahren heiratet Josef seine Else, eine gebürtige Oberkleenerin, gründet mit ihr eine Familie, wird sesshaft und ein angesehener Bürger. Er engagiert sich vielfältig, u. a. im Sportverein, beim VdK und auch bei den Egerländern.
„Schon in den siebziger Jahren fahren wir zusammen ins Egerland“, erinnert sich der Sohn. „Als wir sein kleines Poschitz erreichen, sehe ich meinen Vater das erste und einzige Mal weinen. So kannte ich ihn nicht. Das Haus seiner Kindheit ist bewohnt. Reden kann er da nicht, er ist sehr aufgewühlt.“ Martin sagt: „Es ist der wirkliche Spagat seiner Generation, der zwischen dem inneren, stillen Verbleiben seiner Elterngeneration in der alten Heimat und einem eigenen Ankommen und Neuanfangen hier in Oberhessen. Dies ist die eigentliche Herausforderung. Er bleibt im Herzen bis zuletzt der Egerländer und wird doch auch zum alten Oberkleener.“
Für den Sohn ist die Geschichte des Vaters auch eine Mahnung, gerade im Hinblick auf das schwierige Konfliktfeld im Baltikum und die Ereignisse im letzten Jahrhundert. Geschichte ist immer auch eine sehr persönliche. „Was immer ich von meinem Vater dazu erfahren habe: Es war immer dieses ‚Nie mehr so etwas erleben müssen, auch ihr sollt das nicht‘. Das war immer authentisch und zweifelsfrei, gerade bei unseren gemeinsamen Besuchen in seiner alten Heimat, aber auch später im polnischen Danzig, in Litauen und im russischen Königsberg“, sagt er.
Martin Hanika war als junger Mann auch bei der Bundeswehr: „In meiner Dienstzeit waren die Thüringer auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, also die Roten, im Manöver. Wenige Jahre später, im Herbst 1989, haben wir uns vor Freude über die Wiedervereinigung in den Armen gelegen. Wir waren und sind Brüder.“ So schnell können vorgegebene Feindbilder revidiert werden. „Mit meinem Vater bin ich Anfang der 90er Jahre im Konvoi der aus der DDR abziehenden sowjetischen Panzer durch Polen gefahren. Wir haben die jungen Männer innerlich dankend verabschiedet, mit dem Dank für den friedlichen Abzug.“ Die einfachen Menschen, das war Josefs Credo, seien nicht das Problem. „Er entwickelte die Sinnlosigkeiten militärischer Gewalt aus eigenen Erfahrungen und Verletzungen, körperlichen wie seelischen, langanhaltend oder gar immerwährend, eigenen wie auch denen seiner gesamten Generation.“
„Mein alter Vater war weise, ich habe ihn sehr respektiert“, sagt sein Sohn. Josef Hanikas Lebensweg – vom Bauernsohn über den Soldaten bis zum Brückenbauer in Mittelhessen – ist auch die Geschichte eines Jahrhunderts und ein Schicksal, das in ähnlicher Form Millionen weiterer Menschen teilten. Für seinen Sohn ist diese Geschichte mehr als ein persönliches Familienschicksal. Sie steht exemplarisch für eine Generation, die durch Krieg und Gewalt entwurzelt wurde – und die sich dennoch für Versöhnung und Frieden einsetzte. Deshalb erzählt er sie heute weiter – nicht als Heldensaga, sondern als Lehre: „Wenn wir die Geschichte unserer Eltern - der Väter wie in gleichem Umfang auch der Mütter - ernst nehmen, müssen wir uns stets auch um Wege des Friedens bemühen.“
Infokasten: Deutschland stationiert aktuell dauerhaft rund 5.000 Soldaten in Litauen, um die NATO-Ostflanke zu stärken, Bündnissolidarität zu zeigen und zur Abschreckung gegenüber Russland beizutragen. Die Entscheidung für eine schwere Kampfbrigade fiel 2023; die „Brigade Litauen“ wurde am 22. Mai 2025 offiziell aufgestellt und soll bis Ende 2027 voll einsatzbereit sein. Derzeit bereiten etwa 400 Soldatinnen und Soldaten am Standort Rudninkai den Aufbau vor; in den kommenden Jahren folgt die vollständige Verlegung ganzer Verbände.