Immer in Mutternähe und oft im Gleichschritt erkundet die kleine Nike die Welt
Weidenidylle mit Rätischem Grauvieh und der stolzen Besitzerfamilie Steffens
Martin Steffens
Cord, Nike und Nellie
Kälbchen Nike ist auf dem Bild gerade elf Tage alt und schon sehr munter unterwegs
Von Imme Rieger
Langgöns. Am 8. Juli 2025 erlebte Martin Steffens aus Lang-Göns einen Tag, den er so schnell nicht vergessen wird: „Ich kam zur Weide und da lag neben unserer Kuh Nellie ein quicklebendiges Kalb im Gras. Ohne jede Hilfe, einfach so auf der Sommerweide geboren. Ein ganz gesundes vitales Kälbchen. Es hat von selbst getrunken. Auch der Mutter ging es prächtig.“ Das kleine Rätische Grauviehmädchen trägt den Namen Nike – vorgeschlagen von Steffens’ Mutter Eheline. „Meine Familie stammt aus Ostfriesland und dort ist dieser Name gebräuchlich – er ist nicht von der griechischen Siegesgöttin inspiriert, obwohl Nike schon ziemlich fit unterwegs ist“, erklärt der Züchter schmunzelnd.
Rinder an sich sind bereits selten in der Region rund um Langgöns anzutreffen – und Rätisches Grauvieh erst recht. Martin Steffens und seine Frau Anne holen mit dieser alten und seltenen Rasse ein Stück alpines Kulturerbe nach Mittelhessen – und sie zeigen, dass dies nicht nur romantisch ist, sondern dass Tradition und moderner Agrarverstand bestens zusammenpassen.
Nellie, Nike und der Chef der kleinen Herde, ein Ochse namens Cord, sind Vertreter einer Rinderrasse, die im schweizerischen Graubünden beheimatet ist, ursprünglich aber sogar schon bei den Römern domestiziert wurde. Die Liebe zum Grauvieh ist bei dem Paar tief verwurzelt. Anne erzählt: „Ich fand die Optik schon immer faszinierend – diese hübschen grauen Tiere mit den hellen Maulringen. Deshalb wollte ich gerne ein Grauvieh haben.“ Ihr Mann ergänzt: „Wir haben uns informiert und sind der ‚Interessengemeinschaft Grauvieh in Deutschland‘ beigetreten.“ Im Herbst 2024 ergab sich dann die Gelegenheit, Tiere zu kaufen, sogar ganz in der Nähe: „Bei Ludwig Bär in Schotten im Vogelsberg standen die damals schon trächtige Nellie und Cord zum Verkauf. Sie sind Halbgeschwister und inzwischen zweieinhalb Jahre alt. Wir kannten den Besitzer zufällig bereits aus der Ziegenszene, das passte einfach sehr gut.“ Denn Martin Steffens kommt aus einer Familie, deren bäuerliche Ambitionen mehrere Generationen zurückreichen: Sein Vater Diedrich züchtet seit vielen Jahren Ziegen und Schafe als Hobby, auch sein Großvater tat dies schon. „Ich bin mit Viechern großgeworden, das steckt irgendwie drin“, sagt der studierte Agraringenieur schmunzelnd.
Warum aber ausgerechnet diese alte Alpenrinderrasse? Der Langgönser erklärt: „Rätisches Grauvieh ist klein, robust, friedlich – und perfekt für unsere Weiden. Sie sind hervorragende Mutterkühe, kalben leicht und sind langlebig. Und ich wollte immer schon eine Rasse, die noch Ursprünglichkeit ausstrahlt.“ Anne nickt: „Sie kommen mit kargem Futter zurecht, sind freundlich, genügsam und trampeln die Wiesen nicht kaputt. Das ist ideal.“
Er fügt hinzu: „Rätisches Grauvieh ist keine Erfindung der Neuzeit. Es begleitet die Menschen seit der Römerzeit. Für mich ist das ein positives Zeichen, auch für den gutmütigen Charakter der Tiere – und ein Stück Kulturerbe. Und weil die Tiere so selten geworden sind, fühlen wir uns auch ein bisschen wie Bewahrer dieser schönen Rasse.“
Ein wichtiger und wesentlicher Grund für die Anschaffung der Rinder war allerdings weniger nostalgisch als vielmehr profan, nämlich das sogenannte „Parasitenmanagement“: Die Steffens lassen Rinder, Schafe und Ziegen abwechselnd auf derselben Weide grasen. Da Parasiten wie Würmer meist nur eine Tierart befallen, werden ihre Kreisläufe so unterbrochen und sie verschwinden dann von selbst.
Wer das Weideland am Ortsrand von Lang-Göns besucht, sieht sofort: Die grauen Tiere wirken entspannt und wach zugleich. Nellie, die junge Mutter, steht gelassen auf der Weide, kaut bedächtig und blickt mit großen dunklen Augen herüber, während Nike unter ihrem Bauch trinkt oder an der Seite der Mutter die Weide erkundet. Cord, kräftig und muskulös, zieht gemütlich Streifen durch das Gras, reißt mit seiner rauen Zunge die Halme ab und passt dabei auf seine “Mädels“ auf.
„Ich schaue, ob der Zaun in Ordnung ist, ob Wasser da ist – und dann lasse ich sie einfach machen. Alle paar Tage bringe ich sie auf eine andere Weide“, erzählt ihr Besitzer. Wenn er sie ruft, trabt die kleine Gruppe neugierig und zutraulich heran. Dann gibt es als Belohnung leckeres Kraftfutter, das die beiden erwachsenen Tiere sehr begierig fressen. An heißen Tagen liegen die drei dicht beieinander im schattigen Bereich der Weiden, wiederkäuend und zufrieden.
Im Winter können die Rinder in den Schutzstall gehen, in dem sich auch die Ziegen und Schafe von Diedrich Steffens aufhalten – sie haben aber auch jederzeit Zugang zur Weide. Die Geburt von Nike bilanziert Martin Steffens mit immer noch leuchtenden Augen: „Das war ein Bilderbuch-Start ins Leben – gesund, vital, selbstständig. Genauso wollen wir das.“ Der Name des Kalbs musste übrigens wie der seiner Mutter mit „N“ beginnen, so schreiben es die Regularien im Herdbuch vor.
Cord hat eine klare Zukunft: „Mit zweieinhalb Jahren ist er schlachtreif. Wenn wir die Rasse erhalten wollen, müssen wir sie auch essen. Sonst bleibt das nur Liebhaberei.“ Diese klare Haltung teilt sein Besitzer ganz offen. Glaubt er, dass alte Nutztierrassen in der modernen Landwirtschaft eine Chance haben? „Die Rasse hat nur eine Zukunft, wenn sie genutzt wird, wenn Verbraucher dazu bereit sind, das Kotelett zu kaufen, auch wenn es nicht ganz so fleischig und marktkonform aussieht wie in der konventionellen Fleischproduktion. Dann haben auch alte Nutztierrassen eine Chance“, findet Steffens klare Worte.
Der Agraringenieur arbeitet beim Landesbetrieb Landwirtschaft Hessen in Wetzlar. „Ich sitze viel am Schreibtisch – die Zeit draußen mit den Rindern ist für mich der perfekte Ausgleich. Aktiv am Tier und in der Natur zu sein, das macht glücklich.“ Die kleine Tochter Klara bekam Nellie damals als Geschenk, erzählt er. Sohn Lorenz ist noch zu jung, wird aber sicher auch bald ebenfalls ins Grauvieh-Abenteuer einbezogen. „Im Oktober 2026 wollen wir Nellie und Nike decken lassen. Ob daraus eine kleine Herde wächst, schauen wir dann. Aber Grauvieh aus Lang-Göns – das könnte was werden“, sagt Martin.
Rätisches Grauvieh ist eine Rasse mit Geschichte: „Das ist eine uralte Alpenrasse, eine der kleinsten Rinderrassen überhaupt“, erklärt Anne, die Biologielaborantin ist. „Früher Dreinutzungsrind – Milch, Fleisch und Arbeitstier. Heute vor allem Fleisch und Milch, aber auch für den Artenerhalt und als Hobby. Kühe wiegen nur 300 bis 600 Kilo. Sie sind extrem robust, werden oft 15 Jahre alt und sind sehr zahm.“ Martin ergänzt: „Sie begleiten die Menschen schon seit Jahrtausenden – und diese grauen Töne mit dem hellen Maulring, das macht sie unverwechselbar.“ Nike ist momentan so cremeweiß wie Cord, der als kastriertes Rind übrigens nicht ihr Vater ist. Mutter Nellie ist dunkelbraun-grau. „Die Tiere können zwischen weiß und dunkelgrau alle Farben bekommen, wir sind schon gespannt, wie sich das bei Nike entwickeln wird“, informiert der stolze Besitzer.
Auf die Frage, was er Menschen rät, die mit dem Gedanken spielen, diese alte Rasse zu halten, zögert Martin Steffens keine Sekunde und sagt lachend: „Macht das! Die Haltung ist unkompliziert, die Tiere sind robust, langlebig, vital und gesund. Man muss nur wissen: Wirtschaftlichkeit steht hier nicht im Vordergrund – aber als Hobby und Herzensprojekt gewinnen jedoch alle.“