Iryna und ihre Kinder im Bus, der sie im März 2022 von Borispol nach Langgöns brachte.
Sie sind wie eine große Familie (v. l., sitzend): Karin Friedrich mit Hund Balou, Kira, Iryna und Mascha, stehend Michael Friedrich und Dolmetscherin Vita Powar.
Vor dem Tagesausflug in den Opelzoo 1995 mit Eberhard Klein (sitzend, 2. v. r.), Iryna im gelben T-Shirt in der oberen Reihe.
Langgöns (ikr). Es ist halb sechs Uhr morgens, als die 38-jährige Iryna aus Kiew am 24. Februar vor einem Jahr von einem Anruf ihrer Mutter aus Borispol aus dem Schlaf gerissen wird. „Der Krieg hat angefangen“, sagt die Mutter. Iryna will es erst nicht glauben. Doch sie, ihr Mann Wanja und die beiden Töchter Kira und Mascha werden sehr schnell eines Besseren belehrt. Heute lebt Iryna mit den beiden Kindern schon seit fast einem Jahr in Langgöns. Wie haben sie, ihre Töchter und die Familie Friedrich, bei denen sie die ersten Monate wohnte, diese Zeit erlebt?
„Das Iryna jetzt hier ist, ist ein großes Glück, denn sie wollte erst nicht nach Deutschland, um bei ihrem Mann zu bleiben“, erzählt Karin Friedrich. Sie und ihr Mann Michael kennen Iryna seit deren Kindheit. Deshalb betont die sympathische junge Ukrainerin auch: „Ich bin hier in Langgöns in meine Familie gekommen.“ Extra für das Pressegespräch hat Karin Friedrich die gleichen Muffins gebacken wie vor 30 Jahren. Das Ehepaar Friedrich engagierte sich im Arbeitskreis „Leben nach Tschernobyl“ seit dessen Gründung nach dem Atomunfall 1986. Karin Friedrich war sogar Gründungsmitglied. Im vergangenen Jahr hatte sich der Arbeitskreis aufgelöst. „Ein halbes Jahr später wirst du umso dringender gebraucht“, sagt Michael Friedrich. Der Arbeitskreis um Pfarrer Eberhard Klein hatte es sich seinerzeit u. a. zur Aufgabe gemacht, Kinder aus dem Ort Borispol regelmäßig im Sommer zu einer Freizeit nach Langgöns zu holen.
Iryna stammte aus Prypjat und lebte dort bis zur Katastrophe. Wie viele andere Menschen wurde sie nach Borispol umgesiedelt. Viermal kam sie als Kind im Rahmen der Freizeiten nach Langgöns. Das erste Mal, da war sie acht Jahre jung, wohnte sie im Paul-Schneider-Freizeitheim, die drei anderen Male im Hause Friedrich. An diese Besuche hat Iryna die allerbesten Erinnerungen: „Das ist jetzt 30 Jahre her, ich kann mich aber noch an Vieles genau erinnern, das Zimmer, in dem ich damals im Paul-Schneider-Heim wohnte, habe ich sofort wiedererkannt, und auch das Schwimmbad in Großen-Linden, wo ich schwimmen gelernt habe.“ Karin Friedrich sagt: „Iryna ist wie mein viertes Kind, wir haben den Kontakt zu ihr immer gehalten, so war sie beispielsweise auch bei der Hochzeit unserer Tochter dabei.“ Als der Krieg ausbrach, drängten Friedrichs direkt darauf, dass Iryna mit den Kindern zu ihnen kommt, um in Sicherheit zu sein.
Doch die Mutter der zehnjährigen Kira und der dreijährigen Mascha zögerte zunächst. Sie ist in Kiew seit über 20 Jahren fest verwurzelt. 2001 ging Iryna wegen des Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Nationalen Agraruniversität nach Kiew und lebt seitdem dort. Beruflich war sie bis zum Kriegsausbruch als Managerin in einem pharmazeutischen Unternehmen tätig. Ihr Mann wurde nach Ausbruch des Krieges nicht zum Militär eingezogen, weil er als IT-Analyst systemrelevant ist.
Der Kriegsausbruch hat die Menschen in der Ukraine überrascht und schockiert. So ging es auch Iryna: „Ich konnte es kaum glauben, erst als ich vom nahegelegenen Flughafen die Explosionen hörte und die Autostaus gesehen habe, konnte ich es realisieren“, erzählt sie. Schnell entschied sich die Familie, auch in Rücksprache mit den Eltern, Kiew zu verlassen. 25 km entfernt wohnen die Omas der Eheleute, „dorthin fuhren wir mit kleinem Gepäck und den wichtigsten Dokumenten“. Für die Strecke, die man in normalen Zeiten in 30 Minuten zurücklegt, brauchten sie drei Stunden. „Alles war voller Autos und Soldaten, überall waren Explosionen, im Dorf der Omas gab es schon Kontrollen.“ Schnell stellte sich in den nächsten Tagen heraus, dass der Ort nicht sicher war, weil ausgerechnet in diesem Gebiet erste Kriegshandlungen stattfanden. Doch der Weg zu den Eltern von Iryna nach Borispol, wo es ruhiger war, war wegen einer gesperrten Brücke, die dem Militär vorbehalten war, blockiert. Außerdem wollte Wanja in Kiew bleiben, um sich um den kranken Vater zu kümmern. Die Grenze für Männer war sowieso ab dem 26. Februar geschlossen. Wanja drängte seine Frau, mit den Kindern nach Deutschland zu gehen.
Eberhard Klein initiierte nach Kriegsausbruch spontan die „Ukrainehilfe in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Lang-Göns“ und reaktivierte seine Kontakte in die Ukraine. Er organisierte einen Bus nach Borispol, um Menschen von dort abzuholen. Irynas Vater holte am 8. März sie und ihre Kinder nach Borispol, denn drei Plätze im Bus waren noch frei. Am 9. März fuhren die drei bereits mit dem Bus in Richtung Westen. Über Warschau ging es dann mit dem Zug weiter nach Deutschland. „Am 13. März morgens um halb vier Uhr kam sie bei uns an, alle Leute wurden in Langgöns privat untergebracht“, erzählt Karin Friedrich. Denn das Netzwerk aus den Arbeitskreiszeiten funktionierte noch. „Eberhard Klein hatte alles organisiert, es war unglaublich“, sagen Friedrichs und Dolmetscherin Vita Powar, die das Gespräch mit Iryna übersetzt. Ganz wichtig ist allen, den zahlreichen Helfern ebenso zu danken wie Eberhard Klein. „Er redet nicht nur, er macht. Er hat vor 30 Jahren schon alles sehr gut organisiert, und jetzt wieder, hier in Langgöns läuft das alles wie im Paradies“, lobt Powar, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Sie weiß, dass das in anderen Kommunen auch anders ist. Dem Langgönser Bürgermeister Marius Reusch gilt ihr ausdrücklicher Dank: „Er hat sich so gut um die Leute gekümmert.“
Bereits am 17. März ging Kira in eine reguläre vierte Klasse der Grundschule in Lang-Göns. Inzwischen ist sie auf der Anne-Frank-Schule in Linden in einer speziellen Klasse nur für Kinder aus der Ukraine, wo ein Notunterricht stattfindet. Sie spricht schon sehr gut deutsch. Manche ihrer Klassenkameraden machen zusätzlichen Online-Unterricht, um den Lernstoff an ihren früheren Schulen in der Ukraine mitzubekommen. „Die Lehrer in Borispol machen Druck, dass wir zurückkommen sollen.“ Im vergangenen August wollte Iryna auch wieder nach Hause, aber ihr Mann hat sie gedrängt, mit den Kindern weiter in Langgöns in Sicherheit zu bleiben. „Für ihn ist das am wichtigsten“, betonen Friedrichs. Iryna ergänzt: „Ich will auf jeden Fall zurück, aber erst wenn der Krieg vorbei ist, um die Kinder nicht in Gefahr zu bringen.“ Die meisten Menschen, die mit ihr im März 2022 im Bus nach Langgöns kamen, sind inzwischen wieder in der Ukraine. „Manche wollen gerne zurück, können es aber nicht, weil alles kaputt ist“, weiß Vita Powar.
Iryna hatte bei Friedrichs eine Wohnung im Dachgeschoss und half sehr gerne beim gemeinsamen Kochen und Bügeln. „Ihr Lieblingsspruch war anfangs ‚I’m cooking salad‘“, schmunzelt Michael Friedrich. Mittlerweile wohnt sie mit den Kindern in einer eigenen kleinen Wohnung in der Nähe des Friedhofs, macht Sprachkurse und engagiert sich bei der Ukrainehilfe. Am liebsten backt sie Crepes und freut sich, etwas für ihre Landsleute tun zu können.
Zweimal täglich telefoniert sie mit ihrem Mann, die Sehnsucht ist auf beiden Seiten groß, „wenn wir feiern, drehen wir extra für Wanja auch Videos“, sagt Karin Friedrich. Wanja bedanke sich ganz oft bei Familie Friedrich für ihre Gastfreundschaft. Michael Friedrich, der Finanzbeamter ist, hat sich seit der Ankunft der drei Ukrainerinnen um die Behördengänge gekümmert. „Das war mein zweiter Job“, lacht er. Finanziell erhält Iryna seit Juni 2022 Hilfen über das Jobcenter.
In Langgöns gibt es nichts, was sie zu kritisieren hätte: „Mir gefällt hier alles sehr gut, ich liebe Langgöns, es ist ruhig, schön und die Leute sind nett.“
Dennoch wünschen sie und ihre Kinder sich nichts sehnlicher, als dass der Krieg endlich endet und sie ihren Ehemann und Papa wieder in die Arme schließen können.