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Neuenstein Nachrichten
Ausgabe 29/2022
Vereine und Verbände
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MuM - Jubiläum Rede Bischöfin 11.7.

Festrede der ev. Bischöfin der EKKW, Frau Dr. Beate Hofmann, zum 12 ½-jährigen Bestehens von MuM (Menschen unterstützen Menschen)

am 11.07.2022 in Neuenstein (DGH Obergeis)

Die Bischöfin präsentierte den Festgästen zum Auftakt Ihrer Ansprache ein rotes Einkaufsnetz. Es dient Ihr als Symbol für die Vernetzung innerhalb des christlichen Glaubens, der Gemeinschaft miteinander – untereinander, im Sinne der Sorge für jemanden und jedem, auf das es ihm wohl ergehe. Hierzu zitierte Sie den 1. Petrus Brief 5.7: Alle Sorgen werft auf Ihn (Gott), denn er sorgt für euch. Aber wie sorgt Gott für uns – er stellt uns in eine Gemeinschaft. Die christliche Gemeinschaft ist also Teil des Sorgenetzes. Sie ist ein Ort zum Reden mit Gott und anderen Menschen, wo man Hilfe finden kann, aber auch eigene Gabe und Talente einbringen kann. Die EKKW kann und will so ein Ort werden, wo man Halt finden kann. Gerade in einer Zeit, wo die Sorgenetze dünner und weitmaschiger werden, auch bedingt durch die Corona-Pandemie. Die Versorgungslage (Gas), die Lebenshaltungskosten, um nur einige Probleme zu nennen. Wie kann man erreichen, dass die Netzte die einem Kraft – Stärke – Hilfe geben, wieder engmaschiger und stärker werden?

Dazu ein paar Gedanken aus meiner eigenen, persönlichen Erfahrung. Meine Großmutter erkrankte nach der 2. Geburt ihrer 4 Kinder sehr früh an Multipler Sklerose. Die Krankheit führte dazu, dass Sie in Ihrer Beweglichkeit sehr stark eingeschränkt war. Sie konnte sich nur von einem Möbelstück zum anderen bewegen war somit an Ihre Wohnungsumgebung „gefesselt“. Die Erkrankung, die bis heute nicht heilbar ist, kam zu einem Stillstand – führte aber nicht zur Besserung. Sie benötigte daher mehr als 50 Jahre Hilfe innerhalb der Familie, aber auch von außerhalb. Nachbarn und professionelle Unterstützung durch Institutionen, die es auch damals schon gab. Weil sie sich dessen bewusst war, war es für sie leichter um Hilfe zu bitten und auch anzunehmen. Gleichzeitig hatte Sie die Gabe, ein Talent, das Versorgungsnetz auch auf andere auszuweiten. Sie hatte es verstanden, dass man trotz einer Einschränkung auch Hilfe geben und auch sein kann. Eines ihrer vielen Talente war, dass sie gut zuhören konnte. Eine Gabe, die es heute leider nicht mehr sehr oft gibt. Dadurch war sie in der Lage auch Rat zu geben um den Sie gebeten wurde. Sie war somit ein wichtiger Bestandteil des Versorgungs- und Sorgenetzes.

Diese Problematik wird durch die heutige Versorgungshilfe vernachlässigt, soll heißen, nicht nur nach Bedürfnissen zu fragen, sondern ob, wie, wann und in welcher Form auch Hilfe gegeben werden kann durch den Bedürftigen. Dies muss und soll ein zukünftiger Teil des Versorgungs- und Sorgenetzes sein. Gerade im ländlichen Raum soll dies größere Bedeutung gewinnen und somit ein Kulturwechsel erfolgen. Die Einbindung der Sorgebedürftigen in die Kommunikation. Verantwortung und vielfältige andere Sorgeformen kann ein wichtiger Netzteil des Sorgenetzes werden und damit das Netz enger und fester machen. Stabile Sorge-Konstrukte können nur dann entstehen, wenn unterschiedliche Akteure miteinander vernetzten und diese auch bereit sind zu kooperieren. Dieser Sorge-Mix, die Kombination von familiärer, nachbarschaftlicher, ehrenamtlicher und professioneller und auch technologischer Unterstützung ist aus Sicht der Bischöfin alternativlos, wenn man in die nahe Zukunft schaut. Der Staat hat hierzu ein komplexes Netz aufgebaut, finanziert durch Steuern und Sozialabgaben, die es dem lokalen Akteur ermöglicht tätig zu werden. Dazu ist aber ein sehr hoher Aufwand von Bürokratismus zu leisten, der den Akteuren das Sorge handeln unnötig erschwert. Es geht aber auch anders.

Die niederländische Buurtzorg (deutsch: Nachbarschaftshilfe) arbeitet nach dem Prinzip: Menschlichkeit vor Bürokratismus. In kleinen Teams wird vor Ort mit den Hilfesuchenden untersucht, welche Art von Hilfe verlangt wird und wer diese geben kann. Danach wird festgestellt, wer für diese Hilfe in Frage kommt. Der Hilfesuchende wird, wenn es möglich ist, in das gesamte System mit eingebunden. Schlussendlich, wenn alle Fragen geklärt sind, kann dann auch die zusätzliche professionelle Unterstützung gewährt werden. Dies erinnert viele Ältere der Teilnehmer an die frühere Gemeindeschwester. Heute würde man Sie vermutlich als Sozialraum-Koordinatorin bezeichnen. Sie ist vor Ort, kennt die Menschen, kommt in die Häuser und kann dann auch das richtige Sorgenetz knüpfen. Berücksichtigt man, dass nach einer Statistik etwa 78% aller Pflegebedürftigen in Hessen zuhause betreut werden, erscheint der richtige Ansatz zu sein etwas zu verändern. Bisher ist die Überforderung der Pflegeverrichtenden vorgegeben. Auch das ehrenamtliche Engagement stößt dann an seine Grenzen, rechnet man dazu den bürokratischen Aufwand der zusätzlich noch verrichtet werden muss.

Die Bischöfin berichtete von Regionen im nördlichen Teil der EKKW, die eine sogenannte Gemeindeschwester etabliert haben. Sie ist davon überzeugt, dass dies ein Teil des zukünftigen Versorgungsnetzes werden kann, das unbedingt gestärkt werden muss. Hierzu ist allerdings ein gewaltiges Umdenken erforderlich. Das staatliche Hilfesystem ist schon seit langem auf Ökonomisierung ausgelegt worden. Dieses ökonomische Modell stößt bekanntlich an seine Grenzen. Immer mehr Menschen fallen durch das Versorgungsnetzt aus den unterschiedlichsten Gründen.

Ein solidarisches Miteinander braucht neues Denken vom Menschen für den Menschen, welches sich an regionalen Erfordernissen / Potenzialen ausrichtet. Ein solidarisches Prinzip der Kultur muss alle Menschen beinhalten, gleich welcher Kultur, Herkunft, Denkweise. Ein Mensch der sich abgehängt, ausgegrenzt, benachteiligt fühlt, kann und wird kein gutes Mitglied in einer auf Solidarität basierender Kultur sein. Er wird diese Kultur sehr schnell verlassen, sich anderen radikalen, rassistischen, egozentrischen Ideologien zuwenden. Dies hat uns die Corona-Pandemie gelehrt.

Es ist aber nicht meine Uraufgabe als Bischöfin Sozialpolitik zu machen, sondern Denkstrukturen und Logiken aufzuzeigen, die der Menschlichkeit, Nächstenliebe und die Sorge auf Gegenseitigkeit behindern oder schlimmstenfalls sogar zerstören. Die Bibel und der christliche Glaube bieten Bilder von einem gelingendem, gemeinsamen Leben und fordern Haltungen, die auf Nächstenliebe ausgerichtet sind. Dazu gehören auch soziale Gerechtigkeit, Empathie und Respekt als Grundsäulen für ein solidarisches Miteinander damit es funktionierende Sorgenetzte hat. Meine Aufgabe ist es Vorzüge, Potenziale der Kirche, die Diakonie mit ihren Einrichtungen, eine sehr wichtige Stütze einer Zivilgemeinschaft sei kann und ist. Die Kirche ist präsent in der Fläche, Sie bietet Ort für Begegnungen. Sie hat eine hervorragende Infrastruktur mit Haupt- und Ehrenamtlichen. Sie kann Hilfeformen verknüpfen, in Verbindung mit einer organisierten Diakonie, z. B. in der Flüchtlingsarbeit ist das gut gelungen und die Kirche kann Interesse wecken und Leitbilder für ein soziales Miteinander bieten.

Hilfsnetze / Sorgenetze sind ohne die Mitwirkung und Gestaltung der Kirche undenkbar – aber auch nicht selbstverständlich, daran muss gearbeitet werden. Das Kleindenken der Kirche mit allen Beteiligten, das Geschehen auf den Ort/-Stadtteil usw. zu reduzieren ist in der heutigen Zeit nicht mehr angebracht. Dazu braucht es aber Erfahrungen, Erfolge, Unterstützung und Mut. Apelle und Argumente nützen da nicht viel. Sehr nützlich ist es Menschen zu haben, die etwas neues / anderes auszuprobieren, z. b. die Ukraine-Andachten sind Gelegenheiten, diese immer wieder auch in anderen Formaten auszurichten. Menschen können dann auch andere begeistern. Dazu genügt vielleicht schon der Gedanke meinen Nachbarn – Mitbewohner – Bekannten zu bitten, mich am sonntäglichen Kirchgang einmal zu begleiten. Diese Menschen (Mutmacher – Türöffner – Aktive – Passive) nannte die Bischöfin das Salz der Erde. Menschen die Begegnungen suchen, keine Angst vor Veränderungen haben, andere mit einer Idee zu begeistern und zu motivieren sind diese Salzkörner.

Mit dem Dank für das Engagement in den letzten 12 ½ Jahren und der Bitte: Seid weiter Salz, seid weiter Licht!

(Bericht von Gottfried Söllner)