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Amtsblatt Blickpunkt Petersberg
Ausgabe 42/2022
Aus dem Rathaus wird berichtet
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... vor 100 Jahren war´s

2007: Übergabe des Staffelstabes an die neuen Vorsitzenden des TVP, Hubert Post und Bernd Weber

von Bernd Weber

100 Jahre Dr. Wendelin Enders, ein unvergessener Petersberger.

Da ist er nun, der Wendelinustag 2022. Und Du, lieber Wendelin, wärst heute 100 Jahre alt geworden. Ich bin sicher, dass es ein unvergleichliches Geburtstagsfest geworden wäre.

Dir und Deinem Namenspatron zur Ehre. Denn Deinen Vornamen hattest Du ja Deinem Geburtsdatum zu verdanken. Du hast Deinen Namen mit Stolz und Freude getragen, und Dein ehemaliger Chef, Bundeskanzler Helmut Schmidt, vergaß in keinem seiner zahlreichen Geburtstagsbriefe an Dich zu erwähnen, dass Du der einzige Wendelin im Bundestag gewesen bist. Leider hast Du es nicht ganz geschafft bis zu Deinem 100. Geburtstag. Im April 2019 wurdest Du in dem Ort Deiner Kindheit und Jugend, Langenberg in der Rhön, beigesetzt. Es war ein kalter, nasser und stürmischer Tag. Das Wetter war, wie wir alle, sehr traurig. Als der gute Pfarrer Willi Schmitt seine letzten Worte und Gebete gesprochen hatte, gab es einen gewaltigen Regenschauer, und Pfarrer Schmitt sprach als allerletzten Satz: „Dem Gerechten regnet es ins Grab.“ Oh, wie recht er doch hatte. Denn was Du, lieber Wendelin, für Deine Mitmenschen getan hast, wussten alle, die um Dich getrauert haben.

Deine Kindheit in der hohen Rhön war fröhlich, aber von harter Arbeit und vielen Entbehrungen gezeichnet. 1940 bekamst Du an der Winfriedschule Dein Reifezeugnis, 3 Monate später wurdest Du zum Kriegsdienst einberufen, sechsmal verwundet, und einmal rettete Dir ein stabiler Löffelstiel in Deiner linken Rocktasche das Leben, als Du von einem Explosivgeschoss getroffen wurdest. Vier Wochen vor Kriegsende, im April 1945, solltest Du den Ort Friedrichroda, am Nordrand des Thüringer Waldes, mit 120 teils 17-jährigen, ungeübten, Soldaten bis zuletzt halten. Angesichts der Übermacht der Amerikaner gabst Du, lieber Wendelin, den jungen Menschen die Erlaubnis zum Rückzug, hast ihnen damit wohl das Leben gerettet und außerdem die Zerstörung der Stadt Friedrichroda vermieden. Für Dich allerdings hätte die Entscheidung tödliche Folgen gehabt, wenn man Dich gefasst hätte. Nach geglückter Heimkehr nach Langenberg musstest Du Dich, mit einem ebenfalls heimgekehrten Freund, in einem Zelt in einem dichten Waldstück zwischen Langenberg und Harbach bis zum Kriegsende verstecken.

Schon im Herbst 1945 bei Deinem Studium in Göttingen und Marburg hast Du Dich für Deine Mitstudierenden eingesetzt und wurdest zum „stellvertretenden Ältesten“ der gesamten Philipps-Universität Marburg gewählt. Dein Leben lang hast Du Dich in unzähligen Ehrenämtern für die Menschen und im Besonderen für die „kleinen Leute“ engagiert und deren Interessen vertreten. Schon zu Beginn Deiner Lehrertätigkeit, als Referendar in Bensheim an der Bergstraße, wurdest Du für Deine Schüler zu Legende. Dr. Wolfgang Hamberger, dessen Frau Du damals dort unterrichtet hast, hat bei seiner Laudatio zu Deinem 85. Geburtstag so trefflich berichtet. Während Dr. Hamberger eine andere Lehranstalt besuchte, bekam er von seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau immer begeisterte Berichte, über Deine Art zu unterrichten. Die Praxis stand im Vordergrund. Du bevorzugtest keinen langwierigen theoretischen Unterricht, Du hast die Schüler und Schülerinnen mit vielen Exkursionen, Parlamentsbesuchen, Betriebsbesichtigungen usw. auf das wahre Leben vorbereitet. Böse Zungen aus dem Kollegium werteten das hin und wieder mit den Worten: „Der macht es sich einfach.“ Weit gefehlt, liebe Pauker und Theoretiker der wahrhaft „alten Schule“. Du zeigtest den Schülern auf, wie es im Leben wirklich zugeht. Viele sind Dir dafür heute noch dankbar. Das wissen heute noch viele ehemalige Schüler und Studierende von der Freiherr-vom-Stein-Schule oder dem „Pädagogischen Fachinstitut“, dem Vorgänger der heutigen Hochschule in Fulda, zu berichten.

Im Jahre 1964 bist Du in die SPD eingetreten und wurdest Gemeindevertreter in Petersberg. In der Opposition kein leichtes Amt, zumal gerade mit Josef Petri (CDU) ein Bürgermeister im Amt war, dessen Wirken anerkannt und über alle Zweifel erhaben war. Ich selbst weiß aber, wie hoch die gegenseitige Wertschätzung zwischen Euch beiden bis zuletzt war. Zum Wohl der Menschen, sich auch über Parteigrenzen hinweg für die gute Sache einzusetzen, prägte die politische Arbeit von Dir, lieber Wendelin. Schon 1965 nominierten Dich die Delegierten einstimmig als Kandidaten für den damaligen Bundestagswahlkreis 134 (Fulda, Lauterbach, Schlüchtern). Am 9. Mai 1967 bist Du über die Landesliste in das Bonner Parlament eingezogen, dem Du ununterbrochen bis 1987 angehört hast. Mit Ausnahme der Wahlen 1983 hast Du, Wendelin, immer Deinen Wahlkreis Hünfeld - Hersfeld-Rotenburg - Melsungen (WK128, später 130) gewonnen und warst somit direkt gewählter Abgeordneter. Deine Stärke war es, im Wahlkreis und darüber hinaus präsent zu sein. Und zwar sieben Tage die Woche. Deine Wochenenden verbrachtest Du oft auf Parteiversammlungen, Familienfeiern und Vereinsjubiläen in Deinem Wahlkreis oder am Sportplatz. Du warst der „Abgeordnete zum Anfassen“, den viele heute so schmerzlich vermissen. Deine Aussage auf die Frage, wo DU denn die besten Informationen für Deine Arbeit im Bundestag bekommst: „In Petersberg in der Guten Quelle beim Winn. Dort höre ich, was das Volk will und denkt.“ Den Menschen helfen zu können, das war für Dich oberste Prämisse. Du hast es erfolgreich getan, in Sprechstunden und als Mitglied in vielen Ausschüssen, wo ja bekanntermaßen die Arbeit getan wird, und nicht am Rednerpult im Bundestag.

Dass Du dabei auch Menschen geholfen hast, ohne es an die große Glocke zu hängen, zeigt ein Dokument aus dem Jahre 1975, unterzeichnet von Erich Honecker, dem damaligen ersten Sekretär der SED. Er bestätigt Herrn Dr. Wendelin Enders die genehmigte Ausreise einer DDR-Bürgerin, für die Du dich eingesetzt hast. Legendär Deine Wahlkämpfe im ehemaligen Wahlkreis Hersfeld. Manchmal reservierten die Wirte, auch aus Kostengründen, einen Saal für zwei Wahlveranstaltungen ein einem Tag. Je nach Terminlage fand dann zuerst eine Wahlkampfveranstaltung von der SPD mit Wendelin Enders und gleich anschließend eine der CDU mit Deinem Dauer-Kontrahenten Wilfried Böhm von der CDU statt. Oder umgekehrt! Danach habt Ihr beiden oft noch so manches Glas in bestem Einvernehmen geleert. Die Berichte aus dieser Zeit von Wilfried Böhm, an Deinen runden Geburtstagen, hatten förmlich Kultcharakter.

Ab den 70er Jahren begann Deine Tätigkeit auch im Europarat und in der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union (WEU). Egal ob in den Ausschüssen für das Bundesvermögen,sowie für Kriegsfolgen und Verfolgungsschäden, im Haushaltsausschuss oder im Gremium für innerdeutsche Beziehungen, Sport oder Landwirtschaft. Dir war keine Aufgabe zu viel. Doch auch für, oberflächlich gesehen, banale Dinge wie den Fernsehempfang im Zonenrandgebiet, den Lärm von der Bundesbahn-Neubaustrecke oder die Frage, welche Gefahr die Abbildung von Zitronen auf Reinigungsmittelflaschen darstellen kann, hast Du Dich eingesetzt. Es waren die Anliegen „Deiner“ Wähler aus dem Wahlkreis und die waren Dir wichtig.

Einer Deiner Nachfolger fragte Dich einmal, wie Du es denn geschafft hast, bei den Menschen so beliebt zu sein. Darauf fragtest Du ihn zurück: „Was machst du denn samstags und sonntags?“ Antwort: „Da bin ich privat für meine Familie da.“ Dies sei ein Fehler, sagtest Du ihm, und hast ihm den Rat gegeben: „Du musst dich erkundigen, wer in deinem Wahlkreis einen runden Geburtstag, eine goldene Hochzeit oder ein Vereinsjubiläum feiert, um dort gratulieren zu können. Dann kaufst du ein paar Blumensträuße und ein paar Flaschen Wein und gehst da hin.“ Der Parteifreund war verdutzt. (Er hat übrigens im Sommer dieses Jahres eine Auszeit wegen Überlastung von seiner politischen Arbeit genommen... ähnliches haben wir von Dir nicht erlebt.) Für Deine politischen Kontrahenten konntest Du ein unbequemer Gegner sein, wenn Du von Deiner Sache überzeugt warst. Manche, die Deinen Weg kreuzten und nur „Ja- Sager“ gewohnt waren, hatten dann ihre Schwierigkeiten mit Dir. Ach Wendelin, was gäbe ich dafür, Deine Meinung und Deine Einschätzung zur heutigen politischen und gesellschaftlichen Situation unseres Landes zu erfahren.

Mit Deinen Vereinstätigkeiten ließen sich ganze Seiten füllen. Im Vorstand vieler Vereine warst Du aktiv tätig und brachtest Dich und Deine Verbindungen zum Wohle der jeweiligen Vereine ein. Die Anzahl Deiner Vereinsmitgliedschaften war wohl irgendwo bei 20 bis 80. Manchmal wusstest gar nicht, ob Du Mitglied in einem Verein warst oder nicht. Im festen Glauben, dass Du Mitglied im Schützenverein Petersberg warst, sollte anlässlich eines Deiner runden Geburtstage der Spielmannszug der Petersberger Schützen ein Ständchen spielen und den anschließenden Fackelzug vom TVP-Sportlerheim zum Schützenheim begleiten. Natürlich wollten die Schützen Dir das nicht verwehren, machten aber doch darauf aufmerksam, dass diese Freundschaftsdienste normal nur für Mitglieder des Vereines geleistet würden. Deine Reaktion: „Was, ich bin kein Mitglied bei euch? Da zahle ich gleich mal den Beitrag für ein paar Jahre nach und werde Mitglied.“

So kannte und liebte man Dich!

Der Verein, der Dir aber am allermeisten zu verdanken hat, ist ohne jeden Zweifel der Turnverein 1909 Petersberg. Von 1989 bis in den März 2007 warst Du, mit einer Unterbrechung von einem halben Jahr, beim TVP 1. Vorsitzender. Der TVP war Dir eine Herzensangelegenheit

Auch im Turn-Gau warst Du viele Jahre im Vorstand als 2. Vorsitzender tätig. Man muss es einmal betonen, dass Du deine gesamte Vereinstätigkeit ausschließlich ehrenamtlich verrichtet hast. Unendlich viel Zeit und sicherlich auch einiges an finanziellen Mitteln hast Du für Deine Vereine aufgebracht. Und an dieser Stelle muss man sich auch bei Deiner lieben Frau Heide und Deinen Kindern bedanken, die ihren Ehegatten und Vater ja mit der halben Welt teilen mussten.

Deine Heimat hast Du über alles geliebt. Als vor einigen Jahren der Gipfel der Milseburg von ein paar zu ehrgeizigen Naturschützern mit Eisenpfosten und Drahtseilen verschandelt wurde, hast Du eine großartige Protestrede gehalten, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Gottesdienste auf der Milseburg hast Du oft und gerne besucht. Und danach natürlich in der Hütte mit Deinen Freunden in froher Runde zusammen gesessen. 2010 zu Deinem 88. Geburtstag gab es eine Ausnahme. „Da bin ich auf dem Wachtküppel zum Wendelinusgottesdienst und anschließend zum gemütlichen Beisammensein im Gasthaus Ebersburg. Künftig geht es allerdings wieder traditionsgemäß auf die Milseburg.“ Runde Geburtstage von Dir waren gesellschaftliche Ereignisse, wo nichts dem Zufall überlassen wurde. (Einige Vereinsmitglieder des TVP durften da schon im Vorhinein zur Probe essen und trinken! Ein wahrhaft köstlicher Spaß.) Hier konnte man beobachten, wie beliebt und geachtet Du warst. Da gab sich die Prominenz die Klinke in die Hand, und es wurde immer ein großer Saal für die Empfänge benötigt. So auch zum 85., als eine ganze Ebene des Hotels Esperanto reserviert war. Über 300 geladene Gäste waren anwesend. Der Ablauf war von Dir genau festgelegt, doch mancher Festredner vergaß, auf die Uhr zu schauen. Und so zog sich die Sache hin, und das schöne Büffet drohte zu verkochen und zu verbrutzeln. Auf Dein Schlusswort hast Du verzichtet und stattdessen folgendes gesagt: „Meine Rede gebe ich zu Protokoll. Sie wird auf den 90. Geburtstag verschoben, heute haben wir keine Zeit mehr dazu. Denn um 15:30 Uhr spielt der RSV Petersberg gegen den SV Steinbach, und da will ich wenigstens noch die zweite Halbzeit sehen. Ich bin nämlich Mitglied in beiden Vereinen.“ Und genau so geschah es. Während zu Hause Deine Geburtstagsgäste warten mussten, hast Du beiden Mannschaften nach dem Spiel in den Kabinen noch einen Kasten Bier ausgegeben.

Lieber Wendelin. Deinen 100. Geburtstag feierst Du nun da oben. Vielleicht mit Josef Petri, Alfred Axt und Deinen Skatfreunden aus dem Sportlerhaus, Karl Egerer und Karl di Lorenzi.

Und Winfried Gaul wird wohl kommen und Dir mit der Gitarre ein Ständchen bringen. Vielleicht kommt sogar Helmut Schmidt, der ja zu jedem runden Geburtstag eingeladen war und es nie geschafft hatte. Herzlichen Glückwunsch zum 100. posthum, lieber Wendelin.

Du bist und bleibst ein unvergessener Freund der Menschen.

Und ein Vorbild für alle, die Dich näher gekannt haben.