Liebe Leser vom „Fenster zur Heimat“. Der Heimatverein freut sich ganz besonders, einen Beitrag eines der besten Kenner der gesamtdeutschen Geschichte, Herrn Günter Sagan aus Marbach, veröffentlichen zu können.
Josef Petri und seine illegalen Zonengrenzübertritte in der frühen Nachkriegszeit
Jeder wird in eine Zeit hineingestellt, der er nicht entrinnen kann. Sie prägt sein Leben. Für Petri waren dies anfänglich nach Kindheit und Schulzeit in Fulda die Jahre bei der Wehrmacht. Im Juni 1941 kam er zur Front im Baltikum. Er spürte bald, dass „der Krieg kein Geländespiel zu sein schien“. Nach weiterer Ausbildung stand Petri als Leutnant Anfang 1943 am mittleren Ostfrontabschnitt bei Woronesch. Hier erhielt er eine schwere Verwundung, bei der er sein linkes Auge verlor. Daraufhin war nur noch Heimatdienst in einer Ersatz- und Ausbildungsabteilung möglich. Er diente im brandenburgischen Spremberg als Ausbilder. In Spremberg lernte er bald seine spätere Frau Rita Gottschlich kennen, deren Eltern einen Betrieb besaßen. Nach einem letzten Kriegseinsatz bei Berlin, mit anschließender kurzer amerikanischer Gefangenschaft, fand Petri sich in der Heimatstadt Fulda in der US-Zone wieder. Er wartete sehnlichst auf eine Nachricht von seiner Braut in Spremberg. Als die kam, gab es kein Halten mehr.
Die Besatzungsmächte hatten einen Zonenwechsel verboten, trotzdem wollte Petri es wagen, in die sowjetische Zone zu gelangen. Er „startete per Bahn am 26.10.1945 in Richtung Osten“. Der Zug endete in Eschwege, in unmittelbarer Nähe der Zonengrenze. Er wusste nicht, wie er „ungeschoren über die Grenze kommen konnte. „Ich fragte einen Bauern, der auf dem Bahnhofsvorplatz auf seinem Traktor saß, der einen niedrigen Plattenwagen zog. Der Mann sagte mir, er habe `drüben' sein Anwesen und dürfe deshalb täglich hinüber und herüber fahren und würde mich bis zur Grenze mitnehmen. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie hilfsbereit die Menschen damals waren. Kurz vor der Grenze, als ich mir schon Gedanken machte, wie ich weiterkäme, hielt der Bauer an, stieg ab und öffnete einen geräumigen Werkzeugkasten, der unter dem Planwagen angebracht war und sich über die ganze Breite des Wagens erstreckte.
Josef Petri mit Braut und Bruder
Er sagte, ich solle da hineinkriechen. Er kenne die Grenzsoldaten inzwischen sehr gut und glaube fest, dass ich ohne Schwierigkeiten hinüberkäme. Er hing dann das Vorhängeschloss wieder davor und schloss es ab.“
Nach der geglückten Grenzüberquerung nahm ihn der Bauer bis zu seinem Hof mit und empfahl ihm, die Nacht in seiner Scheune zu schlafen, im Morgengrauen könne er sicherer zur nächsten Bahnstation gehen. Dies sei besser als in der Nacht oder am helllichten Tag. Petri bekam im Bahnhof seine Fahrkarte nach Finsterwalde. Man konnte ihm nur nicht sagen, wie lange es dauere, fast die gesamte Sowjetzone zu durchqueren. Am Sonntag, dem 28. Oktober 1945 kam er am frühen Morgen in Finsterwalde an. Da in dieser Zeit noch Ausnahmezustand herrschte und vor 6 Uhr morgens niemand auf die Straße gehen durfte, musste er im Bahnhof sitzen bleiben. Die große Spannung fiel ab, man hätte ihn auch aufgreifen und einsperren können. Bald war er überglücklich. Nach dieser Fahrt ins Ungewisse konnte er seine Rita in die Arme schließen, seine Zeit in Finsterwalde begann.
Nach Petris Einschätzung fand 1948 die gefährlichste „Unternehmung“, die Reise nach Fulda, während „unseres Finsterwalder Aufenthalts“ statt. Das Kleinkind Marita blieb bei den Großeltern. Am 1. Weihnachtsfeiertag 1948 fuhren die Eltern mit der Bahn nach Vacha, der letzten Bahnstation vor der Zonengrenze. Weihnachten, so hatten sie erfahren, sei günstig, da seien die Grenzer wegen der Feiertage nicht so aufmerksam. „In Vacha wohnte ein Bahnbeamter, dessen Adresse uns durch Mundpropaganda bekanntgeworden war. Von ihm hieß es, er könne Grenzgänger in den Westen schleusen. Wir suchten ihn auf. Er sagte uns, nachdem wir einen recht happigen Obolus entrichtet hatten, wir sollten kurz vor Mitternacht am Güterbahnhof in Vacha sein. Dort werde er uns in der Nähe eines Güterzugs, der dort abfahrbereit stände, erwarten. Als wir pünktlich dort ankamen, setzte er uns in das Bremserhäuschen eines Güterwagens und sagte uns: „Wenn der Zug sein Tempo nach einigen Kilometern so verringert, dass man ein Halten erwartet, müssten wir abspringen, denn dann seien wir im Westen.“ Der Zug fuhr eine kurze Strecke durch westdeutsches Gebiet, um dann wieder an anderer Stelle in die Zone zu fahren. [In der Gegend um die Kaliwerke überquerten die Eisenbahnlinien öfters die Landesgrenzen, die Ulstertalbahn von Geisa aus gehörte dazu.] In Petris Freude, dass diese Aktion bis dahin so gut geklappt hatte, schenkte er dem Eisenbahner noch eine Schachtel Zigaretten, ohne daran zu denken, dass er in dieser Schachtel noch wertvolles Westgeld versteckt hatte. „Aber an Geld durfte man bei diesen Heimlichkeiten sowieso nicht denken. Schließlich liefen wir Gefahr, dass man uns irgendwo ‚schnappte‘, wir eingebunkert worden und selbstverständlich auch bestraft worden wären.
„Unsere Bahnfahrt über die Grenze klappte jedenfalls. Mit uns sprang noch eine ganze Hochzeitsgesellschaft aus dem anderen Bremserhäuschen. Wir liefen in der Dunkelheit zur nächsten westdeutschen Bahnstation, - ich glaube, es war Heringen -, und lösten dort unsere Fahrkarte nach Fulda. Der Bahnbeamte machte uns nochmals Angst, indem er sagte, wir sollten vorsichtig sein, amerikanische Streifen liefen in diesen Grenzzonen herum und würden alle Grenzgänger, die sie erwischten, wieder in den Osten zurückschicken. Aber auch diese Hürde nahmen wir und kamen am 2. Weihnachtstag glücklich in Fulda an. Neben dem Wiedersehen mit meinen Eltern und Geschwistern suchte Rita vor allem nach Baby-Kleidung. Ein Paar Schuhchen war für sie die größte Freude. Nur wussten wir noch nicht, ob wir das alles auch ungeschoren über die Grenze bringen würden.“
Wird fortgesetzt
Auch „die Rückfahrt verlief nicht ohne Probleme“. Mit Bahn und Bus erreichten die beiden Rasdorf. „In Setzelbach war der Klassenkamerad Theo Balzer Lehrer. Wir warteten dort, bis die Nacht kam. Dann besorgte er uns einen älteren Schüler, der uns durch die Wiesen und Felder nach Geismar führte, dem ersten Ort auf Ostzonen-Seite. “Dort übernachteten wir im Pfarrhaus bei Pfarrer Wachtel. Wir waren bei ihm avisiert. Seine Haushälterin hatte uns das Fremdenzimmer geheizt. In unseren Betten lagen heiße Backsteine.
Am nächsten Morgen ging es mit dem Milchauto, auf dem auch ein Volkspolizist mit einem jungen Mädchen saß, nach Vacha. Als dort an der Brücke die Russen den Wagen anhielten, rief er ihnen in einem deutsch-russischen Kauderwelsch zu: „Das sind alles Grenzgänger, die ich in der Nacht geschnappt habe und die ich jetzt zur Kommandantur bringe.“ Mit einem „DAWAI, DAWAI“ ließen uns die russischen Posten weiterfahren, und wir waren glückselig“.
Dass die Petris sogar einen Angehörigen der ostzonalen Grenzpolizei fanden, der ihnen in schwieriger Situation half, wirft schlaglichtartig einen Blick auf das Verhalten der Menschen an der innerdeutschen Grenze. Ein seelischer Abstand zwischen Ost- und Westdeutschen existierte nicht, das Gemeinsame stand 1948 noch im Vordergrund.
Die gesamte Familie Petri/Gottschlich verließ nach dem gescheiterten Aufstand am 17. Juni 1953 auf mehr oder weniger illegale Weise die DDR. Sie sahen für sich und den Betrieb keine Zukunft mehr.
Anmerkungen
Die in Anführungszeichen gesetzten Teile des Textes stammen aus den schriftlich festgehaltenen Lebenserinnerungen von Josef Petri (1988) sowie Interviews durch den Verfasser dieser Veröffentlichung Anfang 2016.
Gleichzeitig existiert zu dem hier vorgestellten Text über Petris illegale Grenzübertritte ein im Fernsehstudio des Medienzentrums Fulda angefertigte Zeitzeugenbefragung. Wer Petri sehen, hören und mehr über ihn wissen will, dem sei empfohlen, die Homepage des Zentrums im Bereich Geschichtsprojekte aufzurufen. ( www.medienzentrum-fulda.de ). Dort befinden sich weitere, didaktisch-methodisch bearbeitet, für den Schulunterricht geeignete Interviews. Dies hat auch überörtlich Aufmerksamkeit auf sich gezogen und dem Medienzentrum Fulda mit ihrem ehemaligen Leiter, Rudolf Karpe, und seiner Nachfolgerin, Elisabeth Franc, besondere Anerkennung bezüglich der Eigenproduktion von Regionalmedien eingebracht.