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Selterser Kurier
Ausgabe 23/2024
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11. Juni 1964: Ein schicksalhafter Tag mit einem tragischen Ende

Ursula mit ihrem Vater Heinrich Erwen in Eisenbach

Potrait Ursula Kuhr, geb. Erwen

Von Julia Hartmann

Nicht nur freudige Ereignisse haben einen Jahrestag, sondern auch tragische, die einen bis heute erschüttern können. Es ist nunmehr im Juni 60 Jahre her: der Amoklauf von Köln-Volkhoven. Zwei Eisenbacherinnen erinnern sich an ihre Ursula. Sie ist ihnen bis heute präsent.

Es ist der 11. Juni 1964. Die 24-jährige Ursula Kuhr, geborene Erwen, aus Köln-Klettenberg, verheiratet, Lehrerin, macht sich fertig für den Schultag. Sie lebt in Köln mit ihrem Mann und arbeitet an der katholischen Volksschule in Köln-Volkhoven. Niemand kann wissen, dass es ihr letzter Schultag sein wird.

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Ursula kennt Eisenbach sehr gut. Ihr Vater Heinrich Erwen stammt aus dem Ort, sie selbst ist in ihrer Kindheit und Jugend sehr oft zu Besuch bei ihrer gleichaltrigen Cousine Loni Hartmann, geborene Erwe. In den Kriegsjahren bis 1945 lebt Ursula bei ihren zwei ledigen Tanten und ihren Großeltern in der Feldstraße. Auch danach ist Ursula oft in Eisenbach zu Besuch. Mit Liesl Trost, geborene Hartmann, die im Nachbarhaus wohnt, freundet sie sich an.

Ihre Eltern Heinrich und Christine betreiben einen kleinen Laden mit Zigarettenwaren im Gottesweg 149 sowie ein „Büdche“ am Eingang des Kölner Stadtwalds. Die Straße Gottesweg liegt im Stadtbezirk Rodenkirchen in Köln. Über dem Kiosk im Gottesweg wohnt die Familie in einer Wohnung. Ursula ist ihr einziges Kind.

Ursula Kuhr ist ein aufgewecktes Mädchen, lustig, frei raus, rau weg, aber eine liebe Person, erinnert sich Loni. Während des Krieges bleiben Ursulas Eltern in Köln wegen des Geschäfts. Das Mädchen ist in Eisenbach – fern ab von der großen Stadt, in die es Bomben hagelt – besser aufgehoben. Loni beschreibt Ursula, die aus Köln stammt, trotzdem als „echte Eisenbacherin“, weil sie eben nicht „auf fein“ macht, sondern offen und bodenständig ist. Einmal habe Ursula gegen Abend die Ziege der Großeltern beim Ziegenhirten im Dorf abgeholt und geschimpft, weil der Ziegenbock nicht machte, was sie wollte: „Der verreckte Bock!“ Sie wechselt von Kölsch ins Eisenbacher Platt und zurück – je nachdem mit wem sie spricht.

Liesl beschreibt Ursula als lustig und gute Trösterin. Sie hat immer ein offenes Ohr. Wenn Ursula in Eisenbach ankommt, stellt sie ihren Koffer schnell ab und geht zu Liesl rüber. Die ledigen Tanten sind deshalb auch manchmal beleidigt, erinnert sich Liesl. Aber Liesls Mutter macht eben einen leckeren Kakao, den mag Ursula so gerne.

Auch Loni besucht Ursula im Sommer 1954 für acht Tage in Köln. Sie flanieren durch den Stadtwald mit dem großen Hund der Familie. Junge Kerle rufen: „Das ist ja ein Tier!“ Ursula sagt trocken zu Loni: „Die haben sie nicht mehr all‘! Wir sind doch schöner wie der!“ Vater Heinrich nimmt die beiden mit auf ein Spiel des FC Köln ins Fußballstadion.

Ein Foto zeigt Ursula, ihren Vater Heinrich und ihre Tanten Marie und Käthe („Kathche“) auf dem Parkplatz unterhalb des Großen Feldbergs. Ursula hat lockige, kürzere Haare, trägt eine weiße Kurzarmbluse, einen hellgrau-karierten Rock und weiße Pumps. Sie trägt an ihrem Handgelenk eine schmale Armbanduhr und an ihrem Ringfinger einen Ring. Es ist 1963, das Jahr ihrer Hochzeit mit Wolfgang Kuhr. Ursula hat große Augen und wenn sie lacht, zeigt sich ein Grübchen. Mit Liesl steht sie weiter in engem Briefkontakt.

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Es ist 9 Uhr, kurz vor der großen Pause. Die Schüler sitzen konzentriert im Unterricht der Volksschule in Volkhoven. Zwei Klassen haben Turnunterricht auf dem Schulhof. Ursula arbeitet noch gar nicht so lange an der Schule. Ursula schreibt ihrer Freundin Liesl von der neuen Stelle. Sie freut sich, näher an zu Hause: „Ich komme jetzt nach Volkhoven.“ Sie mag es dort, versteht sich gut mit ihren Kolleginnen.

Nur zehn Minuten später betritt ein Mann in Arbeitskleidung das Schulhofgelände, auf dem Rücken ein Pflanzenspritzgerät, in der Hand eine selbstgefertigte Lanze. Mit einem Holzkeil blockiert er das Schultor von innen. Das Spritzgerät ist mit einer brennbaren Flüssigkeit gefüllt. Es wird damit zum tödlichen Flammenwerfer.

Auf der Wache des Kölner Schutzbereichs Nord geht bereits gegen 9.30 Uhr eine Meldung ein: „Amokläufer in Köln-Volkhoven, Volkhovener Weg in Höhe der Schule – mit Flammenwerfer!“ Es ist der Arbeitsplatz von Ursula Kuhr. Hier unterrichtet sie gerade eine Klasse in einer der Baracken. Um die Kinder vor dem Eindringling zu schützen, versuchen Ursula Kuhr und ihre Kollegin, die Tür zuzuhalten. Doch vergebens. Mit brachialer Gewalt gelingt es ihm, die Tür zu öffnen. Eine der Lehrerinnen – es ist Ursula Kuhr – stürzt dabei und wird durch Lanzenstiche getötet. Vorher gibt der Amokläufer vom Schulhof aus mit dem Flammenwerfer durch ein offenes Fenster mehrere Flammenstöße auf eine Klasse von neun- bis elfjährigen Kindern ab. Auch die zweite Lehrerin ersticht er mit der Lanze. Acht der 28 schwer verletzten Kinder sterben. Der Täter vergiftet sich noch am Tatort.

Über den Angreifer Walter Seifert, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, zur Tatzeit 43 Jahre alt, wird kurz darauf bekannt, dass dieser jahrelang einen Kampf mit verschiedenen Behörden geführt hatte. Er stritt mit Versorgungsämtern, verfasste Abhandlungen und bombardierte damit die Behördenmitarbeiter. Bei einer psychischen Untersuchung wurde ihm ein „schizophrene[r] Defektzustand bzw. eine paranoide Entwicklung“ bescheinigt. Eine Gefährdung für die Öffentlichkeit wurde nicht gesehen.

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Die Nachricht vom Attentat und dem grausamen Tod Ursulas erreicht auch Eisenbach und die Verwandten dort – über Georg Hartmann („Brick’s Schorsch“), der in seinem Geschäft ein Telefon hat. Eine der ledigen Tanten aus der Feldstraße, Tante Marie, arbeitet dort. Trauer und Bestürzung sitzen tief. „Es war sehr schlimm“, erinnert sich Loni. Bis heute ist das Ereignis nicht fassbar, der Tod Ursulas tragisch. Die Eisenbacher Verwandten – Lonis Eltern und ihr Bruder Richard – fahren zur Beerdigung nach Köln, Loni bleibt zu Hause wegen der Kinder, besucht aber einige Zeit später das Grab der Cousine in Köln.

Liesl ist zu der Zeit schwanger. Ihr Mann arbeitet in Frankfurt auf der Post, wo die Nachricht über die grausame Tat bereits die Runde macht, und ruft in der ZVG (Zündmetall-Verkaufsgesellschaft) in Eisenbach an, Liesls Arbeitsplatz. Schock, Entsetzen: „Schlimm war es“, sagt Liesl.

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Ursulas Grab auf dem Kölner Südfriedhof erinnert an den damaligen Mut der jungen Lehrerin, sich beim Attentat von Volkhoven schützend vor die ihr anvertrauten Kinder zu stellen. Sie lässt dabei ihr Leben. Durch ihren Einsatz werden die Schulkinder in der Baracke verschont. Die Tat gilt als der erste Amoklauf an einer Schule in der Bundesrepublik Deutschland.

Nach den beiden Lehrerinnen, die bei dem Amoklauf ums Leben kamen, sind zwei Schulen in Köln benannt worden. Die Ursula-Kuhr-Schule befindet sich in Köln-Chorweiler.