Eine Woche vor Weihnachten, irgendwann Anfang der Fünfziger Jahre, holte sich mein Vater die Axt aus dem Schuppen. Er trug die von seiner Mutter regelmäßig geflickte Winterjacke, die Stricksocken und stapfte in seinen schwarzen Lederstiefeln in den eisigen Schneesturm hinaus.
Es war am späten Nachmittag. Er musste sich sputen - bald würde es stockfinster werden. Der Schnee lag zentimeterhoch auf der Straße, im Wald war die Schneedecke noch höher.
Den ganzen Nachmittag über hatte er sich genau ausgemalt, an welcher Stelle er nach einem geeigneten Baum Ausschau halten würde. Hoch oben im Pöllner Wald waren die jungen Fichten bereits stattlich in die Höhe geschossen. Dort würde er schon ein prachtvolles Exemplar finden. Er spazierte raschen behäbigen Schrittes die Straße entlang bis zum Forstweg, bog den Trampelpfad den Berg hinauf ab und folgte den treppenartigen Erhebungen der Wurzeln hinauf in das Herz des Waldes. An der Futterkrippe des Försters schreckte er ein paar Rehkitze im Gefolge ihrer Ricke auf. Einige fast verwehte Fußspuren im Schnee verrieten ihm, dass er nicht alleine im Wald war. Es waren die Spuren eines Erwachsenen, er musste also auf der Hut sein. Als er endlich das Waldstück erreichte, in dem die jungen Fichten wuchsen, sah er, dass schon ein anderer auf die gleiche Idee gekommen war. Am Wegrand lag eine frisch geschlagene prächtige, fast zwei Meter große Fichte. Jemand muss sie wohl gefällt haben und wenig später einen noch schöneren Christbaum entdeckt haben. Er überlegte einen Moment lang, ob er nicht einfach diesen Baum mitnehmen sollte. Aber sein Sinn für Familientradition verbot es ihm. Seit der Kindheit seines eigenen Vaters, stand in der Stube Jahr für Jahr ein eigenhändig im Wald gefällter Christbaum. Diese Tradition konnte und wollte er nicht brechen. So beeindruckend diese vor ihm im Schnee liegende Fichte auch war. Er wanderte mit wachen Augen und geübtem Christbaumwilderer-Blick durch den Forst und hielt nach nebeneinander gewachsenen Bäumen Ausschau. Eine der Holzdiebpflichten besagte nämlich, dass es eine Sünde sei, alleinstehende Bäume zu fällen. Wenn zwei Fichten nebeneinander wuchsen, würden sie sich gegenseitig die Sonne nehmen und eine würde sowieso eingehen. Die weihnachtlichen Diebe reinigten also in gewisser Weise den Wald. Denn an diesen Ehrenkodex hielt sich jeder der Burschen, der zur Adventszeit in den Wald geschickt wurde. Endlich entdeckte mein Vater ein wahres Prachtstück. Eine majestätische Weißtanne stand dicht an dicht neben einer stattlichen Fichte. Die Tanne würde gut in die Stube passen, dachte er sich und schätzte ab, wie viele Schläge er mit der Axt benötigen würde. Fünf bis sieben kräftige Schläge könnten reichen, schätzte er. Es wurden zehn, weil er vergessen hatte, die Axt zu schleifen. Kaum begann die Tanne laut zu knacksen und zu knicken, vernahm er das Räuspern einer verrauchten Stimme hinter sich.
Mein Vater fuhr herum. Ein Mann mit wettergegerbten, braungebrannten Gesicht, Zwirnbart und einer Pelzmütze stand hinter ihm. Der Fremde musterte ihn abschätzig und hielt drohend eine Axt in den Händen.
„Es... es ist doch bald Weihnachten.“ stammelte mein Vater.
Es war im Dorf seit dem Krieg üblich, dass die ärmeren Familien die Christbäume selbst schlugen und dies wurde von den Förstern und Waldbesitzern mit gleich zwei zugedrückten Augen geduldet. Von den meisten zumindest, denn laut Gesetzbuch hatte mein Vater einen eindeutigen Diebstahl begangen, der mit Zuchthaus bis zu zwei Wochen oder einer saftigen Geldstrafe geahndet werden konnte.
„Wem gehörst du denn?“ fragte der Alte streng.
Mein Vater musterte ängstlich das Gesicht, es war ihm gleichzeitig fremd und vertraut.
„Vom Hansn z’Voglheislau bin i“ antwortete er mit zitternder Stimme. Er war bisher weder beim Schwarzfischen noch beim Zwetschgenstehlen erwischt worden. Auch von seinem jährlichen Christbaumraub wusste lediglich sein Beichtvater, der ehrwürdige Herr Pfarrer.
„Den Bam gibst mir, du schleichst di und lässt di nimmer blicken“, murmelte der Mann streng, grinste und dabei blitzte ein goldener Zahn auf. Mein Vater packte die Axt und rannte so schnell er konnte den Pfad wieder hinunter, schnellstens raus aus dem Wald. Heilfroh, dem Zuchthaus noch einmal entkommen zu sein.
Inzwischen war es finster geworden und er kam ohne einen Christbaum in der adventlich beleuchteten Stube an. Seine Mutter stand bereits im Türstock und mein Vater befürchtete die schlimmsten Prügel. Doch lieber Prügel als Zuchthaus, dachte er sich.
Kleinlaut gestand er: „Sie ham mi erwischt.“
Anstatt einer Watschen erntete mein Vater ein schallendes Lachen. „Bua, kimm erst rei“, sagte meine Großmutter, „die G’schicht musst uns beim Abendessen erzähln.“
Mein Vater war natürlich erleichtert, dass alles so glimpflich ausgegangen war und versprach, gleich Morgen an einer anderen Stelle im Pöllner Wald sein Glück aufs Neue zu versuchen. Noch hatte er einige Tage bis Weihnachten. Als er am Abend beim Essen der Familie sein Abenteuer zum Besten gab, war seine Angst längst wieder verflogen. Die Mutter und seine drei Geschwister lauschten ihm, als sei er ein wahrer Held. Er erzählte die Geschichte detailgetreu, wie sie sich zugetragen hatte und als er zum Ende gekommen war, überlegte seine Mutter:
„A goldner Zahn. Der Schloadei scho wieder.“
„Wer ist denn der Schloadei?“ fragte der jüngste Bruder und alle Geschwister blickten ihre Mutter gespannt an.
„Der Schloadei hat a Waldstück am Güßhübel“, erklärte meine Großmutter. „Wer dort oben versucht, an Baum z’fälln, der wird kein Glück hab’n. Der alte Geizhals lässt koan an seine Baam ran. Und was hör’ ich da grad? Dass der gute Mann selber den Pöllerwald naufsteigt und sich dort drobm eigenhändig an Baam stiehlt.“
Alle am Tisch lachten schallend.
„Und mei netter Bua hilft ihm auch noch dabei, a wahres Prachtstück zu haun.“
Meine Großmutter lachte aus vollem Halse und fügte hinzu: „Bua, weißt was? Morgen geh ich mit dir zum Güßhübe rauf und dann haun’ mer dem Schloadei sei schönste Fichte, gell?“
Obwohl mein Papa diese Geschichte jedes Jahr aufs Neue erzählte, fiel mir erst, als ich schon selber erwachsen war, die entscheidende Frage ein. Ich schaute meinen Vater traurig an und fragte: „Wenn du früher immer den Christbaum aus dem Wald geholt hast, warum durfte denn ich bis jetzt noch nie einen Baum für die Familie schlagen?“
Der Vater seufzte und antwortete: „Weil deine Mama dich bis heute nicht mit einem scharfen Hakke, geschweige denn einer Kettensäge in den Wald lassen würde. Und außerdem gibt es beim Pennymarkt auch schöne Christäume.
Der Türknall hallte nach. Bertolt verharrte erschrocken, verdutzt, auf der Treppe, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Als das automatische Licht vor dem Haus erlosch, wusste er, dass sie endgültig weg war. Die letzten Worte waberten noch durch den Flur. Es sei alles zu viel, sie könne so nicht mehr leben, waren die ihren. Dann soll sie sich endlich zum Teufel scheren, waren die seinen.
Er blickte noch lange beim Fenster hinaus in die Dunkelheit, ob sie zurückkam. Ein Licht ging an. Aber es war nicht sie, es war die Zeitschaltuhr der Weihnachtsbeleuchtung. Er ging nach draußen und zog den Stecker.
Es war wieder finster. Er lauschte einer Stille, die er in diesem Haus seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Die Kinder waren weg. Sie war weg. Das Haus war stumm, schwieg wie eine wortlose Bestrafung. Bertold öffnete die Terrassentür, um die Stille zu verscheuchen. Die warme Luft sog sich nach draußen, vermischte sich mit der Stille der Nacht. Die silbern glitzernde Schneeschicht nahm jeden Laut in sich auf, draußen war es nicht weniger still als im Haus. Die Wäsche, die sie gestern zum Trocknen aufgehängt hatte, lag steif im Schnee auf der Terrasse. Die Kälte drückte vehementer herein, suchte sich ihren Weg in den finsteren Keller hinunter. Langsam schloss Bertold die Tür. Alles, was ins Haus gehörte, war nun drin. Und alles, was hinaus gehörte, war nun draußen. Und er wusste, dass auch er so nicht leben konnte. Ohne sie.
Er schaute auf das Handy, schaute auf die Uhr. Dann rief er ein Hotel an. Dort ließ er sich auf eine längere Diskussion ein. Sie fragten immer wieder nach seinem Status. Das ginge sie einen Scheißdreck an, schimpfte er ins Telefon und rief bei einem befreundeten Hotelier an. Auch der fing wieder mit dem Status an und Bertolt antwortete: „Getrennt.“ Danach war es kurz ruhig.
Schließlich sagte der Freund, ins Hotel könne er nicht kommen. Sonst bekäme er Riesenärger mit dem Gesundheitsamt. Aber er könne ihm die Gästehütte am Berg anbieten. Die vermiete er ihm gerne privat. Zudem sei sie etwas ab vom Schuss und es bestehe weder die Gefahr, jemanden zu infizieren, noch von jemanden angezeigt zu werden. Er schicke die GPS-Daten und das Versteck des Schlüssels.
Bertold bedankte sich. "Mir ist egal, wo ich schlafe. Hauptsache nicht hier."
Als er das Haus verließ, hatte es zu schneien begonnen. Die Flocken tanzten im Wind. Er schaute noch einmal zurück. Das Haus lag dunkel unter einer leichten Schneeschicht. Wilder Wein rankte um die verwitterten Fenster. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein Mensch, eine Familie, oder Kinder gelebt hatten.
Die Scheibenwischer warfen den Schnee nach links und rechts, er fuhr los.
Das Navi führte ihn aus der Stadt hinaus in die Berge. Nach einer Dreiviertelstunde verschwand das letzte Licht der Zivilisation im Rückspiegel. Eine Forststraße ging steil den Berg hinauf. Die Reifen drehten ab und an durch, fanden aber immer wieder zurück in die Spur. Nach drei Kilometern tauchte die Hütte im Lichtkegel auf. Eine einfache Holzhütte, keine zehn Quadratmeter groß. Vermutlich eine alte Forsthütte.
Er stellte den Wagen neben der Hütte ab, stapfte durch den Schnee und leuchtete mit dem Handy. Der Schlüssel lag in einem kleinen Holzkasten neben den Holzstufen.
Mit klammen Händen schloss er die Tür auf. Es gab keinen Lichtschalter. Er leuchtete mit dem Handy in die Hütte. Ein Bett. Ein Tisch. Ein Holzofen. Auf dem Tisch stand eine Campinglampe. Er schüttelte den Schnee von den Schuhen und betrat die Hütte. Die Holzdielen knarzten. Er schaltete das Campinglicht an. Es roch nach feuchtem Holz und Ruß. Das Bett war frisch bezogen. In einem Korb lag Brennholz und ein Grillanzünder.
Auf dem Schreibtisch stand eine Flasche Mineralwasser und ein Zettel mit dem Logo des Hotels. "Lassen Sie sich von uns verwöhnen", stand auf dem Zettel. Bertold schaute sich um. Viel zum Verwöhnen gibt es hier nicht, dachte er.
Das brauchte er auch nicht. Er brauchte nur einen Ort, an dem ihn nicht alles an die Kinder und an sie erinnerte. Es war ein guter Ort. Die Schneeflocken tanzten immer dichter vor dem Fenster. Der Wind pfiff durch das Kaminrohr.
Die Hütte schien gut isoliert. Es war nicht warm, aber auch nicht kalt. Er hängte seinen Wintermantel an den Haken und beugte sich über den Ofen. Ein uralter, gusseiserner Holzofen. Er würde ihn schon zum Laufen bringen.
Er schichtete einen Holzscheit auf die kleineren Holzstücke und hielt das Streichholz an den Grillanzünder.
Langsam, sich sichtlich abmühend, begann die Flamme sich auszubreiten. Schwefelgestank breitete sich in der Hütte aus, der sich erst verflüchtigte, als das Holz in hellen Flammen loderte.
Sogleich wurde es in der Hütte etwas heller, etwas wärmer, etwas weniger einsam. Bertolt setzte sich auf die Bettkante, atmete tief durch und blickte auf. Wie war er eigentlich hierher gekommen? Hatte er nicht erst vor einer Stunde ein klärendes Gespräch mit seiner Frau gesucht? Er schaute beim Fenster hinaus. Schneeflocken sah er und schwarze Nacht und ahnte die sich im Wind wogenden Fichten und den dichten Wald draußen. Er spürte mit einem Mal die Einsamkeit. Er war nicht nur allein hier oben. Er war einsam. Es war eine weniger unmittelbare Einsamkeit als im Haus, aber ebenso schmerzhaft. Er lauschte dem Trost spenden Knacken des Ofens, das immer öfter vom Aufbrausen des Windes draußen übertönt wurde.
Wie aus einer Gewohnheit heraus schaute er auf das Handy. Null Streifen. Kein Netz.
Er legte es beiseite auf den Tisch. Er rückte den Stuhl zurück und setzte sich darauf. Schaute zu, wie die Flocken wütend gegen das Fenster wehten und es Millimeter für Millimeter einzudecken begannen. Strengte er die Augen an, konnte er die Bäume erkennen, die in wildem Rhythmus vom Wind hin und her geworfen wurden. Der Wind jaulte ab und an auf, wenn eine Böe den Weg durch den Kamin fand.
Nun war er endgültig alleine, dachte er. Heiligabend waren sie noch unter dem Baum gesessen. Kühl, distanziert zwar, aber zusammen. Über die Kinder hatten sie nicht gesprochen. Sie waren auch so da. Immer.
In der Hütte wurde es wärmer. Erst jetzt merkte Bertolt, wie sehr er fror. Seine Hände zitterten und seine Eingeweide zog es vor Kälte zusammen. Als kurz die Zähne zu klappen begannen, schloss er die Augen und atmete tief durch. Als er die Augen wieder öffnete, wischte er sich mit dem Finger darüber. Aber da war nichts. Was wollte er hier nur? Warum hatte es ihn ausgerechnet hierher verschlagen? Was wollte das Schicksal ihm sagen, dass es ihn hierher verschlagen hatte? Er wusste es nicht. Er wusste nicht einmal, ob er nicht doch lieber zu Hause sein wollte. Er versuchte, etwas zu spüren, aber da war nichts. Nichts, außer die Kälte.
Er schaute lange aus dem Fenster und verlor sein Gefühl für Zeit. Er hatte sich doch nur einen kurzen Moment seinen Gedanken hingegeben. Aber das Fenster war zur Hälfte vom Schnee bedeckt. Das Feuer im Ofen glomm nur noch leicht. Er stand auf und warf noch einen Scheit in den Ofen, schürte die Glut. Als es wieder zu brennen begann, ging er zur Tür und öffnete sie langsam.
Sofort rieselte eine Wand aus Schnee in die Hütte. Er öffnete die Tür nur einen Spalt, schloss die Augen und hielt seine Nase in die Kälte. Der Boden füllte sich mehr und mehr mit Schnee. Bald würde er die Türe nicht mehr schließen können. Als er die Augen öffnete, blitzten auf seiner Netzhaut die Abdrücke von Lichtwesen aus einer anderen Welt auf. Als er sich an die Dunkelheit gewöhnte, waren sie verschwunden. Bertold erahnte dort draußen sein Auto, das bereits ganz eingeschneit war. Er würde die Nacht hier oben bleiben müssen. Ob er wolle oder nicht. Ob seine Dämonen ihm hierher gefolgt waren, oder nicht.
Er stemmte die Tür mit aller Kraft gegen den Schnee ins Schloss zurück. Der meiste Schnee auf dem Boden hatte sich sogleich in eine Lache verwandelt.
Es ist Zeit, dachte er und löschte das Licht der Campinglampe aus. Er legte sich in das knarzende Bett und verkroch sich in die nach Salbei duftende Bettwäsche. Die Daunendecke wärmte ihn und er lauschte mit weit aufgerissenen Augen dem Feuer und dem Wind. Das Feuer wurde leiser. Vielleicht auch der Wind lauter.
Er schlief erst lange Zeit nicht ein und hing seinen wütenden Gedanken nach. Dann kippten die Gedankenbilder in verstörende Träume des Halbschlafes. Vielleicht verging die Zeit, vielleicht schlief er. Vielleicht auch nicht.
Als er die Augen aufriss, war das Feuer aus. Es war ein lautes Fauchen, das ihn geweckt hatte. Ein turbinenlautes Dröhnen. Er lauschte in die Dunkelheit. Da war nichts, außer dem Lärm des Sturms, der schallgedämpften Stille des Schnees und des Aufeinanderprallen der beiden. Für einen Moment war ihm, als hätte ein bleiches Gesicht beim Fenster hereingeschaut. Er meinte, Stimmen gehört zu haben, Kinderlachen. Und einen lauten Knall. Aber da war nichts. Nur Kälte, Frost und Schnee, die die Hütte von außen in ihren festen Griff nahmen.
Er versteckte seinen Kopf unter der Daunendecke und schloss die Augen. Das Heulen des Windes war unter der Decke nur noch dumpf zu hören. Es vermischte sich mit seinem unruhigen Atem und den Stimmen in seinem Kopf.
Während er versuchte einzuschlafen und nicht auf die Geräusche dort draußen zu hören, besuchten ihn all die Seelen, die er einst geliebt hatte, die er betrauert, um die er geweint und die ihn verlassen hatten. Ein Reigen an Namen, Gesichtern und Gefühlen, besuchte ihn unter der Decke. Er schaute ihnen nach, hörte ihnen zu, bis er in einen Abgrund hinab fiel oder flog und er mit einem Laut aufschreckte und die Augen aufriss. Da war es wieder gewesen, das Geräusch, das Heulen, das Rumpeln. War er es selbst gewesen? Der Sturm draußen ließ die Bäume rauschen und den Schnee verwehen, das Geräusch war anders gewesen. Unmenschlich. Unnatürlich. Übersinnlich.
Er schaute zum Fenster. Da war etwas gewesen, jetzt war es weg. Er sah auf seiner Netzhaut noch die letzten Konturen einer schwarzen Gestalt mit langen Hörnern, die sich wieder ins Nichts der Nacht auflöste. Er konnte nichts mehr sehen, aber er spürte es noch. Er spürte die Präsenz von etwas aus der Anderswelt überdeutlich. Er war nicht allein hier oben.
Er zog die Decke weit über den Kopf, suchte Schutz und Wärme. Suchte Schlaf, suchte Erlösung. Er betete. Wusste bald nicht mehr, für wen oder was er betete, sprach Zauberformeln aus seiner Kindheit, ritualisierte seine Gedanken, weil er wusste, er würde diese Nacht sonst nicht überstehen. Er wagte es nicht, die Bettdecke zu verlassen, die Augen zu öffnen, auf die Uhr zu blicken. Was, wenn es Punkt Mitternacht war, die Geisterstunde. War es nicht egal? Sie waren längst alle da. Warteten hier, vor seiner Bettstatt darauf, dass die Daunendecke verrutschte, dass sie seinen Schopf zu fassen bekämen.
Er wehrte die Geister vor seinem Bett mit einem Rosenkranz ab, doch bald flog er wieder, flog mit einem Heer dunkler Gestalten über die Baumwipfel. Angeführt von einer golden leuchtenden Frau, die keine Furcht vor den garstigen Kreaturen verspürte, mehr noch, das dumpf raunende, schnaubende, Metall rasselnde Heer sogar befehligte. Die zornigen Wesen eilten schneller und schneller, als suchten sie etwas, verbargen etwas vor ihm. Er ahnte, dass sie seine Kinder geraubt hatten und sie vor ihm fern hielten. Er versuchte, seine Kinder in der schwarzen Menge zu entdecken, aber sie ließen ihn nicht. In wildem Furor schwoll das Raunen mehr und mehr an. Als die ersten begannen, über ihn herzufallen, riss er die Augen auf. Er lag beschützt unter der Daunendecke. Zu hören war nur noch der Sturm, der Böe für Böe durch den Kamin aufheulte. Und ein Klopfen. Bertold lauschte mit weit hervortretenden Augen. Es klopfte erneut. Jemand klopfte an die Türe. Er betete, dass ihm seine angespannten Nerven einen Streich spielten. Als es still blieb, wagte er, seinen Kopf aus der Decke herauszuschieben. Es war kalt in der Hütte. Nichts war zu sehen bis auf das silbrige Schwarz des Tisches, des Schranks und der Fenster. Und des kreisrunden Gesichts, das beim Fenster hereinschaute. Bertold rieb sich die Augen, rieb den Schlaf aus den Lidern, schärfte den Blick. Das Gesicht war immer noch da. Sein Herz hämmerte siedendes Blut durch seine Adern. Das Gesicht äugte durch das Fenster, die Scheiben beschlugen von heißem Atem. Ich träume immer noch, sagte er sich wieder und wieder. Ich träume immer noch. Dann hörte er das Klopfen wieder. Das Wesen klopfte an die Scheibe. Dann rief es seinen Namen. Rief noch einmal seinen Namen. Fragte, ob er da sei.
Bertold griff nach der Campinglampe. Drehte das Licht auf. Das Gesicht verschwand und er sah nur sein Spiegelbild, wie es auf dem Bett saß. Langsam stand er auf und öffnete die Türe. Eiskalter Wind schoss ihm ins Gesicht, Schnee drückte in die Hütte, riss ihm die Tür aus der Hand. Der heulende Wind pfiff nun durch die Hütte, jagte mit Schneeflocken die verbliebene Wärme heraus.
Im Licht der Lampe stand, weiß vom Schnee, die schöne Frau aus seinem Traum. „Da bist du ja!“, sagte sie. „Ich habe dich überall gesucht“, sagte die Frau, stapfte durch den Schnee in der Hütte und umarmte ihn mit ihrer tröstlichen Kälte.
„Ich hab das alles nicht mehr ausgehalten“, sagte er.
„Ich doch auch nicht“, sagte die Frau und reichte ihm die klirrend Kalte Hand. „Aber ohne dich ist es noch schlimmer“, sagte sie.
„Und jetzt?“, fragte Bertold und deutete auf den Schnee in der Hütte.
„Runter können wir nicht mehr. Mein Auto ist auf halber Strecke steckengeblieben“, sagte sie.
Sie blickten sich ratlos an, während der Sturm neuen Schnee in die Hütte blies. Dann umarmten sie sich. „Wichtig ist nur, dass wir zusammen sind.“