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Landkreisausgabe Treffpunkt Unstrut-Hainich
Ausgabe 2/2023
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Wieso rede ich plötzlich mit meinen eigenen Kindern wie meine Eltern mit mir?

"Hast du deine Zähne schon geputzt?", "Du kannst nicht nur den Nachtisch essen" oder "Nicht in diesem Ton!" Bestimmt kennst auch du nervige oder einfach typische Sätze, die deine Eltern im Umgang mit dir häufig benutzt haben. Doch was, wenn die Sätze der Eltern plötzlich aus dem eigenen Mund kommen? Könnte es sein, dass nicht alle "Eltern-Sätze" kompletter Quatsch sind?

Eines Tages ist es mir einfach so rausgerutscht: "Jetzt reiß dich doch mal zusammen" sagte ich zu dem brüllenden Kleinkind, das zum fünften Mal die Handschuhe "richtig" und nicht "falsch" angezogen haben wollte. Das war - zu meiner Verteidigung - natürlich eine Stresssituation: Morgens, Kita-Aufbruch, Zeitdruck, alle Beteiligten waren schon leicht genervt. Das kleine Geschwisterkind schwitzte im dicken Schneeanzug und quengelte von der einen Seite während das größere auf der anderen sein persönliches Handschuhdrama erlebte.

Wo kommt das her?

Im Nachhinein ärgerte ich mich. "Reiß dich mal zusammen!" Das ist so ein Satz, den ich früher von meinen Eltern zu hören bekam und den ich niemals zu meinen eigenen Kindern sagen wollte. Ich erinnere mich genau daran, wie mich diese Aufforderung, mich doch bitte mal zusammenzureißen, nur immer noch wütender gemacht hat. Hilfreich fand ich das überhaupt nicht. Aus heutiger Sicht finde ich den Satz auch nicht richtig, denn in meinem Ideal von bedürfnisorientierter Erziehung sind alle Emotionen willkommen und das Kind soll sich nicht dafür schämen müssen, wütend, traurig oder aufgedreht oder was auch immer zu sein.

Wieso sage ich so etwas trotzdem? Wahrscheinlich, weil das Erbe der eigenen Erziehung noch tiefer in uns verwurzelt ist, als uns bewusst ist. "Viele sagen, sie wollen nicht wie ihre eigenen Eltern sein", sagt die britische Psychotherapeutin und Autorin Philippa Perry gegenüber dem Zeit Magazin. "Und dann merken wir, wie die Worte der Eltern trotzdem aus unserem Mund und die Taten durch unsere Hände kommen."

Wir geben das weiter, was wir selbst erfahren haben

Das weiterzugeben, was man als Kind selbst erfahren hat, ist laut Perry sehr weit verbreitet. Und eben das nicht zu tun, ist richtig schwer, selbst wenn man das Verhalten der eigenen Eltern nicht gutheißt, so liest man auch in ihrem Bestseller "Das Buch von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen". Das geht leider so weit, dass Menschen, die als Kind Gewalt erfahren haben, oft den eigenen Kindern gegenüber auch gewalttätig werden. Doch auch wenn das Verhältnis zu den Eltern insgesamt gut ist und man auf eine schöne Kindheit zurückschaut, gibt es immer Dinge, die man weitergeben möchte und welche, die man anders machen will.

Je länger ich über den besagten Satz sinniere, desto mehr muss ich auch ein wenig über mich selbst lachen. Denn was ich da gesagt habe, ist eben ein richtiger Eltern-Satz. Und weil ich noch nicht so lange Kinder habe, fühlt es sich manchmal noch komisch an, dass ich nun in der Position bin, solche Dinge zu sagen, die ich bisher nur aus der kindlichen Perspektive kannte.

Durchs Elternwerden ändert sich die Perspektive

Indem ich die Worte meiner eigenen Eltern wiederhole, versetze ich mich unbewusst ein wenig in sie hinein und dadurch kann ich ihr Verhalten plötzlich besser verstehen. Ich denke, dass mir die wahre Bedeutung mancher "Eltern-Sätze" erst jetzt bewusst wird oder ich zumindest erkennen kann, aus welchem Bedürfnis heraus sie kommen. Ich konnte zum Beispiel nie verstehen, wieso es meiner Mutter manchmal zu laut wurde und sie um mehr Ruhe gebeten hat. Oder warum es ihr wichtig war, dass wir freundlich miteinander sprechen.

Manche Eltern-Sätze haben durchaus ihre Berechtigung, finde ich. "Bevor wir hier spielen können, müssen wir aufräumen" zum Beispiel oder "Mehr Kekse/Eis/Bildschirmzeit gibt es nicht." Ich glaube, ohne Eltern-Sätze geht es gar nicht, sonst wäre man ja kein Elternteil. Manche sind natürlich total blöd, altbacken oder sogar schädlich. Die Kunst ist es, herauszufinden, welche zu uns selbst passen und welche wir eigentlich nur ungefragt nachplappern. Das mit dem Zusammenreißen möchte ich aus meinem Repertoire wieder streichen.

"Guck nach vorne, nach voooorne" rufe ich dem großen Kind hinterher, das gerade mit dem Radfahren anfängt. Das Gleiche hat mein Vater immer und immer wieder gesagt, bis es mich total genervt hat. Aber, was soll ich sagen? Er hatte ja vielleicht gar nicht so unrecht.

Eltern - unsere erste große Liebe und warum sie oft so schmerzvoll ist

Eltern sind die erste große Liebe. Doch das Verhältnis zu ihnen ist oft kompliziert, ja schmerzhaft. Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru verarbeitet in ihren Büchern schonongslos ehrlich die eigene Bindung zu Vater und Mutter. Doch wie gehen ihre Eltern mit den Büchern der Tochter um? Lesen sie diese? Spoiler: ja! Für uns hat sie über ihre Familiengeschichte geschrieben.

Zwischen mir und meinen Eltern liegen in unserem täglichen Leben 4000 Kilometer. Ich in Tel Aviv, sie sind in Stralsund und auf Rügen an der Ostsee. Würde man die Strecke zwischen uns fahren wollen, müsste man auf dem Weg sieben Länder durchqueren - sieben Länder liegen zwischen uns, doch das alles verpufft, wenn ich an meine Eltern denke. Daran, wie sehr ich mir wünsche, von ihnen geliebt zu werden, und wie sehr ich hoffe, dass sie stolz auf mich sind.

Ich bin als Einzelkind aufgewachsen und wir drei waren uns immer sehr nah. Es gab sonst niemanden, die Großeltern waren weit weg und Freunde hatten meine Eltern kaum, als ich ein Kind war. Es waren nur wir drei, wenn wir abends zu Hause gemeinsam Abendbrot aßen. Mein Papa links außen am Tisch, meine Mama in der Mitte, dann ich. Es wurde immer viel geredet, viel diskutiert bei uns. Vor allem zwischen meinem Vater und mir gab es seit meinen jungen Teenagerjahren regelrechte Schlagabtausche.

Mein Vater liebt es zu provozieren

Wir hatten schon früh grundsätzlich verschiedene Meinungen. Meist über Politik, aber auch über die deutsche Geschichte und die Konsequenzen, die wir daraus zogen. Mein Vater war mein bester Sparringspartner und mein größter Feind zugleich. Er unterstützte, was er toll fand (zum Beispiel, dass ich ursprünglich mal Schauspielerin werden wollte) und entzog seine Unterstützung auf radikale Weise, wenn er anderer Meinung war.

Ich weiß nicht, wie oft sich meine Mutter in ihren Stuhl duckte, wenn sich mein Vater und ich mal wieder in der Öffentlichkeit (gern im Urlaub in Restaurants) so dermaßen in die Haare bekamen, dass er irgendwann nur noch schrie und ich irgendwann nur noch heulte. Mein Vater ist schlau, er hat als ehemaliger DDR-Bürger aus dem Nichts eine ziemlich imposante Existenz erschaffen, damals nach der Wende, und schon zu DDR-Zeiten war er Betriebsdirektor, Dozent an der Uni, ein Erfolgstyp. Mein Vater kann aber auch entsetzlich dumme Meinungen haben, egal ob es um Rassismus, Feminismus oder andere "-ismen" geht.

Er liebt es zu provozieren und seine Meinung lautstark kundzutun. Er ist Menschenfreund und -hasser zugleich. Ein Oxymoron. Er ist sensibel und brutal. Er liebt die Kunst, aber hasst die Künstler. Er verdammt den Kapitalismus, aber den Sozialismus verachtet er auch. Er ist links und rechts und ja, ich weiß, das ergibt keinen Sinn - willkommen in meinem Leben.

Er kann mir den besten Trost spenden und am härtesten nachtreten, wenn ich schon am Boden liege. Ich habe oft das Gefühl, er versteht mich viel besser als meine Mutter, weil wir uns ähnlicher sind, und dann wieder denke ich, er versteht gar nichts. Als ich mit Mitte Zwanzig beschloss, zum Judentum zu konvertieren und nach Israel zu ziehen, war das für meine Eltern hart. Ihr Einzelkind 4000 Kilometer entfernt. Aber meine Mutter sagte mir trotzdem ihre Unterstützung zu. Das ist bis heute ihr Mantra: "Mein Kind, ich verstehe dich oft nicht. Ich stimme oft nicht mit dir überein. Aber ich werde immer zu dir stehen und dich unterstützen."

Ich gehe meinen Weg, im Zweifel auch alleine

Mein Vater hingegen bekämpfte mich auf allen Ebenen. Bis ich ihm nach einer weiteren Eskalation sagte: "Hör zu, ich weiß, das ist nicht der Weg, den du dir für mich vorgestellt hast. Aber es ist mein Weg. Und du kannst ihn mit mir gehen oder ich gehe ihn alleine." Danach sprachen wir drei Monate lang nicht miteinander. Wir haben häufig wochenlang nicht gesprochen, zumindest nachdem ich mit 19 zu Hause ausgezogen war. Als ich noch zu Hause wohnte, wollte ich oft nicht mit ihm sprechen. Vor allem an den Abenden, als zu viel Schnaps zwischen uns stand und er komplett unberechenbar wurde.

Aber die Sache ist: Ich liebe meinen Vater trotzdem über alles, ich bewundere ihn, ich bin froh, ihn zu haben und seine Anerkennung bedeutet mir die Welt. In meinem ersten literarischen Roman "Alef" ist mein Vater in zwei Figuren eingeflossen - er hörte in der Mitte auf, das Buch zu lesen. Irgendwann las er es dann doch zu Ende, und vor ein paar Monaten sagte er am Telefon: "Ich habe 'Alef' jetzt schon dreimal gelesen und finde immer wieder etwas Neues, das ich an dem Buch liebe. Oft muss ich auch weinen", und ich muss nicht dazusagen, dass das eines der schönsten Dinge war, die er mir je gesagt hat. 4000 Kilometer liegen zwischen uns und ein Lob von ihm ist immer noch der Ritterschlag. Ich verarbeite in meinen Texten oft mein Leben und meine Eltern gehören dazu. Sie sind, 4000 Kilometer hin oder her, Quelle und Antrieb. Sie waren meine erste große Liebe und werden es immer bleiben. Ich weiß nicht, wo ich ohne sie wäre. Ich liebe sie und hadere mit ihnen. Und in meinen Büchern kann ich all die Dinge sagen, die ich im wahren Leben aus Angst davor, sie zu verärgern oder zu verletzen, nicht sagen kann.

Sind Familien einander zu nah?

Mein neuer Roman "Frei" handelt von einer jungen Mutter, die für zwei Wochen mit ihren Kindern zu ihren Eltern fährt. Dort heißt es: "Sie brachten einander alle aus dem Gleichgewicht. Hier in diesem Gestrüpp aus Familie. Familien waren "einander zu nah, es gab zu viel Ehrlichkeit und gleichzeitig zu viel Verschwiegenes, als dass sie sich bedingungslos hätten begegnen können. Es gab zu viel Liebe und auch zu viel Hass." Mein Vater hat das Buch nach zehn Seiten abgebrochen. Vielleicht wird er es eines Tages zu Ende lesen. Hoffentlich.