Freisen im Oktober 1945. Fast sieben Monate waren wir schon besetzt. Zuerst von den Amerikanern - dann von den Franzosen. War es eine gute Zeit? Soweit ich mich erinnere, kann ich diese Frage mit „Ja“ beantworten. Aber ich war ja noch ein Kind.
Wir konnten in Ruhe und fast ohne Angst leben. Unsere Besatzer gingen schon rigoros und nicht zimperlich mit der Bevölkerung um. Aber unsere Eltern konnten Pläne machen, ohne dass sie von Bomben oder dem Regime zerstört wurden. Unsere Familie hatte wieder eine Zukunft. Ja, sozusagen waren wir zufrieden - hofften aber auch, dass diese Art der Besatzung nicht ewig dauern würde.
Hunger war jetzt das große Problem in unserem Land. Das Hamstern war jetzt die Überlebensstrategie für viele Menschen. Die Hamsterer waren unterwegs. Fast jeden Tag kamen sie mit ihren Rucksäcken in unser Dorf. Ich kann mir vorstellen, dass es die Menschen eine große Überwindung kostete, betteln zu müssen? Manche hatten aber auch die Möglichkeit, ihre wertvollen Sachen (z.B. Geschirr oder Spielzeug für die Kinder) gegen Esswaren zu tauschen. Man kann sagen: „Geld war in dieser Zeit nichts wert“. Ich bin noch heute stolz auf unsere Mutter, da sie nie irgendeinen Gegenwert für ihre Hilfe verlangte. Jedem war ein „Kauwe“ (Brotkorb) voller Kartoffeln sicher. Ich erinnere mich noch an eine junge Hamsterin, die unserer Oma erzählte, dass die Freisener sehr freigiebig seien. Ein Lob für unser Dorf!
In dieser Zeit hatten wir einen sonntäglichen Dauerbesucher. Es war ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters. Er saß an unserem Mittagstisch und, wenn er ging, war sein Rucksack mit Kartoffel gefüllt. Eines Sonntags kam er mit einem gefüllten Rucksack. Darin war eine schwere, gusseiserne Kuchenform. Mit Tränen in den Augen überreichte er sie meiner Mutter und bedankte sich hiermit für ihre Hilfe. Diese Geste habe ich nie vergessen. Der Zusammenhalt der Menschen in dieser Notzeit ist das, was mir besonderer in Erinnerung geblieben ist.
Helfen war in dieser Zeit für viele Freisener ein Bedürfnis. Ich denke da gezielt an Kriegsgefangene. Hier in Freisen standen einige Baracken, in denen die deutschen Kriegsgefangene untergebracht waren. Sie standen auf der Gemarkung „Auf‘m Trisch“, dem heutigen Hörmann-Gelände. Die Verpflegung der ehemaligen Soldaten war nicht besonders gut. Etliche Freisener Familien fragten an, ob sie helfen könnten bzw. durften. Es wurde erlaubt. Nun konnten sie den Gefangenen ein Mittagessen bringen. Wie viele das in die Tat umsetzten, weiß ich nicht. Aber es waren einige. Überwiegend junge Mädchen gingen jetzt - jeden Tag - mit ihren Essenskörben zu bestimmten Gefangenen. Aus Hilfe wurde Liebe und später eine Heirat. Es waren schon einige Gefangene, die hier in Freisen ihre Heimat fanden.
Zurück zum Dezember 1945. Weihnachten stand vor der Tür. Die Ordensschwestern planten ein Krippenspiel. Besonders den Gefangenen wollten sie hiermit eine Freude bereiten. - Ich muss etwas erklären: Wir hatten 1945 bis zum Herbst keine Schule. Die Schwestern luden die Kinder darum ein, in dieser „schulfreien“ Zeit in den Kindergarten zu kommen. Dieses freundschaftliche Verhältnis blieb danach noch bestehen. Und so konnten die Nonnen auf uns zurückgreifen, um die Weihnachtgeschichte zu spielen.
Es war Heiligabend. Nach mehreren Proben waren wir bereit für das Krippenspiel. Am späten Nachmittag gingen wir gemeinsam zu der großen Baracke, wo heute die Firma Peiffer steht. Nachthemden waren überwiegend unsere passende Bekleidung (es gab nichts anderes). Auf Bänken erwarteten uns die Soldaten. Schwester Kamilla hatte ihre Mandoline mitgebracht. Sie stimmte ein Weihnachtslied an, und wir setzten mit ein. Mit dem nötigen Ernst trugen wir nun die Weihnachtsgeschichte vor. Voller Aufmerksamkeit beobachten die Soldaten unser Spiel. Welche Gefühle mussten sie hierbei haben? Der Krieg war aus! Die Heimat war ihnen sicher - aber sie waren heute nicht zu Hause. Nach der Darbietung war zuerst Stille. Dann setzte der Applaus ein. Diesen habe ich bis heute nicht vergessen.
Heute, nach 80 Jahre ohne Krieg (bei uns), hoffe ich, dass wir in Deutschland weiterhin in Frieden leben dürfen.
Unserer Welt wünsche ich von ganzem Herzen Frieden! Wie die himmlischen Heerscharen es verkündeten: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“