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Vergesslichkeit nervt - und ängstigt uns manchmal. Aber wenn wir verstehen, wie das Gedächtnis funktioniert, können wir es trainieren. Ein Experte erklärt, worauf es dabei ankommt.
Manchmal sind es die ganz alltäglichen Sachen, die uns fast verzweifeln lassen: Wo ist der Autoschlüssel? Was wollte ich gerade noch mal sagen? Und was ist eigentlich mit meinem Gedächtnis los? Ist das alles noch eine normale Vergesslichkeit - oder schon ein Zeichen für eine Erkrankung?
Neurowissenschaftler: Namen zu vergessen ist normal
Unser Gedächtnis sei nicht darauf ausgelegt, einzelne Dinge wie den Namen von Menschen, die wir mal auf einer Party getroffen haben, zu speichern und zu erinnern, erklärt der Neurowissenschaftler Charan Ranganath. Deswegen sei es auch normal, solche Sachen zu vergessen. Unser Gehirn funktioniert viel mehr wie ein Filter: „Gedächtnis ist der Prozess, durch den unser Gehirn herausfiltert, was wichtig ist - das heißt, Informationen, die uns helfen, uns in einer unsicheren und sich ständig verändernden Welt zurechtzufinden“, so der Psychologie-Professor.
„Wir neigen dazu, uns auf unsere Schwächen zu konzentrieren, wenn es um das Gedächtnis geht, aber größtenteils machen wir einen ziemlich guten Job darin, uns an das zu erinnern, was wir brauchen, dank des präfrontalen Cortex“. Dieser Teil des Gehirns ist aktiv, wenn Menschen etwas planen oder komplexe Probleme lösen. Deshalb spielt er Ranganath zufolge auch eine zentrale Rolle, wenn wir uns im Alltag an etwas erinnern oder eben nicht.
Das Gedächtnis kann man trainieren
Das Problem: Die Leistungsfähigkeit des präfrontalen Cortex verringert sich, je älter wir werden, und wir schaden ihm, wenn wir zu viel multitasken, gestresst sind oder nicht genug Schlaf bekommen, erklärt Ranganath im Business-Magazin Fast Company.
Aber: Den präfrontalen Cortex kann man stärken. Und zwar unter anderem durch körperliche Aktivität und Sport, Achtsamkeitsübungen und indem man Ablenkungen (etwa E-Mail- und Whatsapp-Benachrichtigungen) abstellt.
Raus aus dem Trott: neue Eindrücke für Updates sammeln
Zudem ist es laut Ranganath wichtig, dem Gehirn möglichst viel verschiedenes Futter (er spricht von diversen Daten) zu geben, um es zu trainieren und fit zu halten. Dieses Futter besteht aus Erlebnissen und Erfahrungen, die wir machen.
Dazu müssen wir aus dem Trott kommen, also andere Orte entdecken und in Kontakt mit Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Perspektiven kommen, rät der Experte.
Diese individuellen Erfahrungen können wir wiederum nutzen: Unsere Fähigkeit, Ereignisse zu erinnern, sorgt dafür, dass wir unserem Wissen immer wieder ein „Update“ geben und uns so schnell und flexibel an neue Situationen anpassen können.
„Wenn wir dagegen zu viel Zeit mit denselben Menschen, an denselben Orten und in denselben Situationen verbringen, verkümmert unser Gedächtnis. Während der Pandemie zum Beispiel saßen wir jeden Tag im selben Raum und hatten mit denselben Leuten (meist über Bildschirme) zu tun“, erklärt Ranganath. „Die Tage dauerten scheinbar ewig, und am Ende der Woche hatten wir nur wenige Erinnerungen an das, was wir in dieser Zeit getan hatten.“
6 Gewohnheiten, die den Gedächtnisschwund verringern
Wie kann man sich vor Gedächtnisschwund im Alter schützen? Eine Studie aus China hat sechs gesunde Gewohnheiten identifiziert, die dabei helfen könnten. Dazu wurden mehr als 29.000 Menschen untersucht - über 10 Jahre hinweg.
Mit dem Alter wird das Gedächtnis tendenziell schlechter. Eine chinesische Studie hat untersucht, ob der eigene Lebensstil Einfluss auf diesen Prozess hat. Dafür haben Forscher:innen des Nationalen Zentrums für Neurologische Störungen in Peking 29.072 Senior:innen über einen Zeitraum von 10 Jahren immer wieder befragt und untersucht.
Die Ergebnisse machen Hoffnung: Sie legen nahe, dass eine Kombination aus gesunden Gewohnheiten dazu beitragen, den Gedächtnisschwund zu verlangsamen und das Demenzrisiko zu verringern. Die Studie ist kürzlich im Fachblatt BMJ erschienen.
Gesunde Gewohnheiten: Können sie vor Gedächtnisschwund schützen?
Das Experiment begann bereits im Jahr 2009: Die 29.072 Studienteilnehmer:innen waren zu diesem Zeitpunkt bereits 60 Jahre oder älter, mit als medizinisch „normal“ definierten kognitiven Fähigkeiten. Es handelt sich ausschließlich um Menschen aus China. Circa 20 Prozent der Senior:innen wiesen das APOE-Gen aus, das als stärkster Risikofaktor für Alzheimer gilt. Ausgeschlossen wurden Teilnehmer:innen mit einer lebensbedrohlichen Krankheit, Hör- oder Sehbehinderungen.
Die Proband:innen nahmen mehrmals an Tests teil, um ihre Gedächtnisfunktion zu messen - sowohl zu Beginn der Studie als auch während Nachuntersuchungen in den Jahren 2012, 2014, 2016 und 2019. Wenn bei diesen Nachuntersuchungen eine leichte kognitive Beeinträchtigung oder Demenz auftrat, wurden die Daten dieser Personen bei den Hauptanalysen nicht mehr berücksichtigt. Die Forscher:innen betonen, dass die Studie vor allem den normalen Gedächtnisschwund im Alter untersucht, nicht Demenz.
Demenz ist eine Krankheit, bei der Betroffene nach und nach die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren. Die Ursache liegt meist bei Durchblutungsstörungen im Gehirn. Alzheimer ist eine häufige Form von Demenz, die auf dem Verlust von Nervenzellen beruht. Darüber hinaus gibt es noch Altersvergesslichkeit, die bei älteren Menschen häufig auftritt. Bei ihr handelt es sich um eine leichte Störung, die reversibel ist und stabilisiert werden kann.
Studie misst sechs gesunde Gewohnheiten
Außerdem füllten die Proband:innen immer wieder einen Fragebogen zu ihrem Lebensstil aus. Die Forscher:innen bewerteten diesen anhand von sechs Faktoren für eine gesunde Lebensweise und teilten die Teilnehmer:innen je nach Ergebnis in verschiedene Gruppen ein.
Die Ergebnisse zeigten: Die einzelnen Gewohnheiten konnten den Gedächtsnisverlust unterschiedlich stark beeinflussen:
Zusammenhang zwischen gesunden Gewohnheiten und Gedächtnisschwund?
Die Forscher:innen fassen ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: „Eine Kombination positiver gesunder Verhaltensweisen ist mit einer langsameren Geschwindigkeit des Gedächtnisschwunds bei kognitiv normalen älteren Erwachsenen verbunden“. Wer mehrere gesunde Gewohnheiten ausübte, hatte eine geringere Wahrscheinlichkeit für eine fortschreitende leichte kognitive Beeinträchtigung und Demenz. Der positive Effekt von gesunden Gewohnheiten ließ sich auch bei Proband:innen mit APOE-Gen beobachten.
Wie der Guardian schreibt, hatten Menschen mit vier bis sechs der genannten gesunden Gewohnheiten eine um fast 90 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, eine Demenz oder eine leichte kognitive Beeinträchtigung zu entwickeln als diejenigen, die keiner oder nur einer davon nachgingen. Wer zwei bis drei Gewohnheiten verfolgte, bei dem sank das Risiko um 30 Prozent.
Wie belastbar sind die Studienergebnisse? Die Forscher:innen weisen selbst auf einige Beeinträchtigungen hin. Zum Beispiel beruhe die Bewertung der Gewohnheiten auf Selbstauskünften und sei deshalb anfällig für Messfehler. Dr. Susan Mitchell von der Organisation Alzheimer’s Research UK lobt die Durchführung der Studie gegenüber dem Guardian. Sie „ergänzt die umfangreichen Beweise dafür, dass ein gesunder Lebensstil dazu beitragen kann, Gedächtnis und Denkvermögen im Alter zu unterstützen.“