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Wenn sich Kinder beim Spielen mit Sprüchen hart angehen, ist das für uns Eltern nicht immer leicht auszuhalten. Dem eigenen Kind jetzt beistehen oder lieber raushalten und auf die Klärung der Kinder untereinander vertrauen? Das fragt sich unsere Autorin Jessica, während sie dem wilden Treiben zusieht. Kennt ihr das auch?
Ich sitze auf einer Bank seitlich vom Spielplatz und beobachte zufrieden, wie mein Kind sich zwei anderen Jungs zum Spielen angeschlossen hat. Sie flitzen über die Sandgrube, klettern, schaukeln, rutschen. Kinder eben.
Die drei Rabauken befinden sich gerade am Klettergerüst und ich höre nur, wie einer der Jungs zu meinem Kind sagt: "Angsthase, Pfeffernase!" Er zeigt mit dem Finger auf ihn, lacht ihn aus. "Du bist ja ein Angsthase", wiederholt er und hat offensichtlich Spaß daran.
Mein Sohn ist ruhig. Er lässt sich nichts anmerken. Macht langsam weiter, wirbelt herum, geht wieder zur Schaukel. Und schaukelt. Und ich? Ich sitze da und merke, wie mein Herz innerlich blutet. Als hätte man mich gerade mit einem unsichtbaren Pfeil getroffen.
Ich gebe zu: Innerlich bin ich so sauer, dass ich dem anderen Kind am liebsten ordentlich meine Meinung geigen möchte. Denn, Entschuldigung, woher nimmt es sich bitte das Recht, meinen Sohn zu beleidigen? In meinem Kopf klingt das dann ungefähr so:
"Hey, du kleiner Vollidiot, was ist dein Problem? Hast du zu Hause die Keksdose nicht aufbekommen, oder was? Du nennst meinen Sohn nicht noch einmal Angsthase, haben wir uns hier verstanden? Der ist nämlich so viel mutiger als du es bist. So!"
Aber klar, das kann nicht wirklich eine Option sein. Also bleibe ich ruhig, frage mich aber schon, ob ich in der Situation meinem Kind helfen und das andere Kind zumindest mit einem Moralkeule-Eltern-Spruch wie "So spricht man aber nicht mit anderen" zurechtweisen sollte?
Doch was würde ich damit wirklich erreichen? Erfahrungsgemäß nichts. Die meisten Kinder stehen dann nur da, gucken einen mit großen Augen etwas überrascht an und verstehen gar nicht, was genau jetzt das Problem ist. Ist ja nur ein Spaß, der zehn Sekunden später schon wieder vergessen ist.
Mein Sohn hat das jedoch nicht vergessen. Noch am Abend liegt er im Bett und fragt mich nachdenklich: "Mama, bin ich wirklich ein Angsthase?" Aua. Da ist er wieder - dieser Pfeil in meinem Herzen. Es macht eben doch etwas mit einem Kind. Es tut ihm weh, weil er es nicht versteht. Er fühlt sich falsch.
Welche Mama wünscht sich in solchen Momenten nicht, dass sie ihr Kind einfach in eine watteweiche Blase packen kann? Eine, in der nichts und niemand ihn verletzen kann. In der es keine fiesen Kommentare gibt oder Schimpfwörter und auch keine Angsthasen.
Aber das Ding ist, und das musste ich mit dem Mamasein wirklich erst lernen: Ich kann ihn nicht immer schützen und beschützen. Schon gar nicht vor den gemeinen Sprüchen und auch Taten anderer Kinder. Sie wird es immer geben. Auf dem Spieli, in der Kita, in der Schule.
Doch ich habe auch verstanden und gelernt, dass ich ihm etwas anderes mit auf den Weg geben kann: Selbstwertgefühl.
Und dieses Gefühl schützt ihn wie eine dicke, unsichtbare Rüstung, in der er sich stark fühlt - auch für die Momente, in denen er unfair behandelt wird.
Die gute Nachricht: Selbstwertgefühl funktioniert. Die schlechte Nachricht: Es handelt sich um ein langfristiges Projekt. Es reicht nicht aus, hier und da mal eine simple "Hey, du bist toll und stark."-Ansage zu machen und zack, die Rüstung sitzt.
Ich spreche hier von einer Aufgabe, die leider Jahre dauert und womöglich niemals endet. Die Frage ist halt auch, was denn Stärke überhaupt ist? Und ist es richtig, keine Angst zu haben? Denn Angst schützt uns genauso wie ein Schutzmantel vor unüberlegten Entscheidungen, Risiken und Gefahren.
Wahre Stärke liegt wohl darin, zu wissen, was er für sich selbst will. Selbst zu entscheiden, wann er sich etwas zutraut und wann eben nicht. Mutig zu sein, bedeutet auch, sich nicht immer den Erwartungen anderer zu fügen und zu sagen: "Du, das kannst du gerne so machen, ich möchte das so für mich nicht."
Hach, ich wünschte, es wäre einfacher. Aber letztendlich fängt es doch immer bei uns selbst an. Denn wenn wir das Selbstwertgefühl von unserem Kind stärken wollen, müssen wir uns selbst fragen, wie wir denn unser eigenes pushen.
Zum Beispiel durch Erfolgserlebnisse. Ob im Sport, ob bei meiner Arbeit oder meinetwegen auch beim Putzen oder der Beauty-Behandlung im Kosmetikstudio. Wo auch immer ich etwas schaffe, meine Ziele erreiche, mich überwinde, mich besser fühle, stärke ich mich und meinen Selbstwert. Darüber hinaus natürlich auch in meinen persönlichen, sozialen Verbindungen. Den echten Freundschaften, in denen wir einen ehrlichen Umgang pflegen. Im Zusammensein mit meinem Partner.
Wie kriege ich das nun auf meinen Sohn übertragen?
Versuch macht klug! Er besucht einen Sportkurs, auf den er wirklich Bock hat - und dort auch Zugang zu anderen Kindern hat, die er nicht täglich in der Kita sieht. Natürlich mussten wir uns da ein bisschen rumprobieren, was für ihn passt. Wir organisieren Playdates. Wir sind regelmäßig gemeinsam kreativ und erschaffen etwas mit unseren Händen. Ich lese ihm Fantasiereisen vor. Er nimmt an unserem Alltag teil, wodurch wir ihm zeigen wollen, dass er wichtig ist. Er hilft also dabei, das Abendessen vorzubereiten und stopft auch mal die Wäsche in die Waschmaschine - auch wenn so alles länger dauert. Ihm gibt das viel.
Und: Ich lebe vor, wie ich mit anderen Menschen umgehe, wie ich über andere Menschen rede - insbesondere auch dann, wenn sie nicht dabei sind. Klingt simpel, jedoch ist das wohl der schwierigste Part. Denn klar bin ich auch mal genervt. Oder müde. Oder genervt, weil ich müde bin. Wir erinnern uns: Ich wollte gern die Angsthase-schreienden Kinder anbrüllen.
Aber meine Strategie lautet: Tief durchatmen, den Mund halten. Als ich bei meinem Sohn abends am Bett sitze, mein Herz noch etwas schmerzt, sage ich schließlich zu ihm:
"Du, weißt du, jemand, der andere Angsthase nennt, weiß vielleicht noch nicht, was echte Stärke ist. Denn andere Menschen zu beschimpfen, ist nicht besonders stark."
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und er schnappt sich seinen Kuscheldino. Puh, für heute geschafft.
Innerlich weiß ich, dass er noch so viel mehr lernen wird und muss. Dass das nur ein kleiner Teil der Wahrheit ist. Dass es okay ist, Angst zu haben, Dass es mutig ist, sich selbst treu zu bleiben und zu sagen: "Hey, ich kann das noch nicht." Ich bin aber zuversichtlich, dass seine Rüstung mit der Zeit immer dicker und dicker wird.
Wahre Stärke wächst wohl ein Lebenlang. Auch in mir.