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Ausgabe 4/2025
Sonstiges
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Aktuelles

Quelle: https://www.fr.de

Insekten, hier eine Schwebfliege, sind wichtig für die Fortpflanzung vieler Pflanzen.

In Deutschland gibt es viel mehr Insektenarten als bisher bekannt. Ein Forschungsteam entdeckt 8000 Neulinge - und es könnten sogar noch mehr sein.

Als im Jahr 2017 der Entomologische Verein Krefeld seine Insektenstudie publik machte, war das Erschrecken groß. Die Mitglieder hatten gezeigt, dass im Laufe der vergangenen knapp drei Jahrzehnte 76 Prozent der Biomasse an Fluginsekten in deutschen Naturschutzgebieten verloren gegangen sind. Der etwas ältere Teil der Bevölkerung hätte es allein aus einer Alltagsbeobachtung heraus ahnen können: Klebten früher beim Fahren auf Autobahn oder Landstraße schon nach kurzer Zeit Insekten auf der Frontscheibe, so passiert das bereits seit Jahren auch bei langen Strecken nicht mehr.

Die Ergebnisse der Studie mögen für Fachleute weniger überraschend gewesen sein, in der Öffentlichkeit und Politik jedoch schlugen sie hohe Wellen. „Vorher hat sich kaum jemand wirklich für Insekten interessiert", sagt der Ökologe Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, wo er Leiter der Außenstelle Gelnhausen ist. Die Studie sei deshalb „auf politischer Ebene" sehr wichtig gewesen und habe der Insektenforschung „enormen Auftrieb" gegeben. „Aber es ist weder für die zuständigen Behörden noch für Forschung ein gutes Zeugnis, dass erst ein Verein kommen musste, um zu zeigen, dass es mit den Insekten bergab geht", findet Haase.

Langzeitmonitoring erfasst systematisch Insekten in ihrer Vielfalt

Um den vom Krefelder Verein beobachteten Rückgang in Naturschutzgebieten auf eine breitere Basis zu stellen und wissenschaftlich zu untersuchen, startete ein Team unter der Leitung von Haase 2019 ein Langzeitmonitoring. Es ist das erste und bislang einzige, das Insekten in ihrer Vielfalt deutschlandweit systematisch und in den verschiedenartigsten Lebensräumen erfasst. Die Feldarbeiten finanzierten die beteiligten Einrichtungen, darunter Universitäten, Helmholtz-Zentren, Leibniz-Institute und Biosphärenreservate, selbst. „Wir waren und sind alle von der Wichtigkeit dieser Insektenerfassungen überzeugt", sagt Haase.

Die beobachteten Areale erstrecken sich dabei über das gesamte Bundesgebiet, von der Nord- und Ostseeküste bis zum Nationalpark Berchtesgaden. Dazu gehören neben Naturschutzgebieten auch „ganz normale Landschaften" bis hin zu bebauten Flächen in Städten, erläutert Peter Haase. Das Projekt wird vom Netzwerk für ökosystemare Langzeitforschung koordiniert und gemeinsam mit den Nationalen Naturlandschaften realisiert.

Auch Bläulinge sind seltener geworden.

Jetzt liegen die Auswertungen für die ersten zwei Jahre vor, und sie sind nicht minder überraschend als die Ergebnisse der Krefelder Studie: So hat das Forschungsteam in rund 1800 untersuchten Proben knapp 32.000 Insektenarten identifiziert, darunter sind rund 8000, von denen man bislang nicht wusste, dass sie in Deutschland überhaupt vorkommen. Insgesamt, so formuliert es Peter Haase, dokumentierten die ersten Ergebnisse des Langzeitmonitorings, „dass wir über die eigentlich bedeutendste und größte Artengruppe so gut wie gar nichts wissen".

In jeder der insgesamt 40 verschiedenen Gebiete haben die Forscherinnen und Forscher von April bis Oktober Fallen aus Fliegengaze aufgestellt, mindestens eine, maximal sechs. Die Fallen, erklärt Haase, habe man sich vorzustellen wie ein „kleines Zelt, nur mit dem Unterschied, dass die Längsseiten offen sind". Weil die meisten Insekten sich am Licht orientieren und nach oben wandern oder fliegen, gibt es dort eine kleine Öffnung, wo zwei Kunststoffflaschen angebracht sind. Die Insekten werden darin gefangen und in Alkohol konserviert.

Als Schutz vor Sonneneinstrahlung, welche die DNA der Insekten zerstören würde, sind die Flaschen mit Aluminiumfolie umwickelt. Die Flaschen mit den gefangenen Insekten werden alle zwei Wochen ausgetauscht, die kompletten Fallen sammeln die Forschenden jedes Jahr Ende Oktober ein und stellen sie im jeweils nächsten April wieder auf.

Genetische Analyse im Labor

in einem Labor der Universität Duisburg-Essen, an der Peter Haase eine Professur innehat, analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die in den Flaschen konservierten Insekten dann genetisch. Das geschieht mit einem speziellen Verfahren, bei dem am Ende die DNA der Insekten isoliert wird. „Weil die Proben extrem viele Individuen enthalten, die überwiegend sehr klein sind, würde es viele Jahre dauern, um alle gefangenen Insekten eines Jahres mit dem Mikroskop zu bestimmen", erklärt Haase.

Eine große Überraschung war, dass die mit vergleichsweise wenigen Insektenfallen gefangenen fast 32.000 verschiedene Arten annähernd der Gesamtzahl der rund 35.000 aus Deutschland bekannten Arten entspricht, wie der Wissenschaftler sagt. Vor dem Hintergrund, dass 8000 - also rund ein Viertel - der identifizierten Arten unbekannt waren, die Fallen vor allem fliegende und weniger krabbelnde Insekten erfassen und erst zwei Jahre Monitoring ausgewertet wurden, vermutet Haase, dass es noch viele weitere Arten gibt, von deren Existenz in Deutschland man nichts ahnt.

Insekten

Rund eine Million Insektenarten wurde bisher beschrieben, das sind mehr als 60 Prozent aller bekannten Tierarten. Vor allem für die Tropen geht man von weiteren Millionen noch unentdeckter Insekten aus.

Gemeinsam ist allen Insekten, dass sie sechs Beine und einen in Kopf, Brust und Hinterleib untergliederten Körper haben.

Fast 90 Prozent der Pflanzen sind für ihren Fortbestand zumindest teilweise auf Insekten angewiesen, darunter viele Nutzpflanzen. Zudem bilden Insekten die Nahrungsgrundlage für viele Tiere. (pam)

Bei den unerwarteten Arten handelt es sich in erster Linie um Zweiflügler wie Mücken und Fliegen (Fachbegriff: Dipteren), sie machen rund 6500 der entdeckten 8000 „Neulinge" aus. Der Rest verteilt sich auf Hautflügler (Fachbegriff: Hymenopteren), zu denen auch Bienen- und Wespenarten zählen. Peter Haase geht aufgrund der Ergebnisse von weit mehr Insektenarten - „vermutlich deutlich über 50.000" - in Deutschland aus.

Das unterstreiche „einmal mehr, wie wenig wir über unsere heimischen Insekten wissen". Hinzu käme, dass in den vergangenen Jahrzehnten „sehr wahrscheinlich viele Insektenarten - zumindest lokal - bereits ausgestorben sind, bevor sie jemals jemand zu Gesicht bekommen hat". Als treibende Faktoren dafür machen die Forschenden bislang weniger Wetter- und Klimaeinflüsse aus, sondern vor allem die Landnutzung".

Auch eine exotische Mückenart, die Krankheiten übertragen kann, wurde gefunden

Auch eine exotische Mückenart, die Japanische Buschmücke, die in ihrem angestammten Gebiet Krankheiten übertragen kann, fanden die Forschenden. Aus anderen Studien wisse man, dass sich weitere exotische Mückenarten bereits „lokal etabliert haben", sagt Haase. „Wir können nur hoffen, dass diese Arten zwar das Potenzial zur Krankheitsübertragung haben, aber die Krankheiten selbst nicht mitbringen."

Die Fallen sind an den Längsseiten offen.

Zu den großen Überraschungen des Monitorings gehört, dass ausgerechnet Gebiete mit niedriger Vegetation wie etwa Wiesen oder Gärten bis zu 58 Prozent mehr Artenvielfalt ausweisen. Diese Flächen sind oft ungeschützt, während viele vor allem größere Schutzgebiete in Deutschland in Wäldern liegen. Peter Haase plädiert deshalb dafür, zusätzliche Schutzgebiete außerhalb von Wäldern einzurichten.

Wie lange das Insektenmonitoring insgesamt läuft, steht noch nicht fest, es ist bisher auf einen unbestimmten Zeitraum angelegt, sagt der Wissenschaftler: „Leider leben wir finanziell immer noch von der Hand in den Mund und würden uns wünschen, eine längerfristige finanzielle Unterstützung zu bekommen." Offenbar fehle es den Insekten nach wie vor an Lobby: „Es ist ein Paradoxon: Wir sind in hohem Maße von der Artenvielfalt der Insekten abhängig, weil sie essenzielle Leistungen für uns erbringen. Aber diese Leistungen sind immer noch zu wenig in unserem Bewusstsein, wie beispielsweise im Hinblick auf die Bestäubung vieler Nahrungsmittel-Pflanzen, bei der Zersetzung von organischem Material, Stichwort Kompost, und dem Abbau von Totholz."

Vom Langzeitmonitoring erhofft sich der Ökologe, „dass wir ein sehr viel besseres Verständnis erlangen, wo welche Arten vorkommen, was die wesentlichen Faktoren für ihr Vorkommen sind, in welchen Lebensräumen sich die Sechsbeiner häufiger oder weniger häufig aufhalten und wie wir Insekten -auch in unserem eigenen Interesse - besser schützen können". (pam)