Quelle: https://www.brigitte.de
Manchmal können wir über Sätze stolpern, die sonst niemandem auffallen. Unserer Autorin ist das zum Beispiel bei folgenden Aussagen so ergangen.
Nachdenken. Manchmal löst es Probleme, manchmal schafft es welche. Mit folgenden Sätzen hatte ich zum Beispiel nie ein Problem - bis ich darüber nachgedacht habe.
Seit ich über diese Sätze nachgedacht habe, verstehe ich sie nicht mehr
"Da hat die Person ihr wahres Gesicht gezeigt."
Ein Mensch ist in Bedrängnis, in einer Not- oder Ausnahmesituation, und macht irgendeinen Mist. Zum Beispiel bestiehlt er seinen Vater, belügt seine Freundin, fällt seinem Kollegen in den Rücken. Dann sagt jemand diesen Satz, "da hat er sein wahres Gesicht gezeigt". Und niemand widerspricht. Ich möchte zumindest eine Frage stellen: Wieso sollte ausgerechnet das, was eine Person in einem Ausnahmezustand von sich zeigt, ihr wahres Gesicht sein? Mit meinem Menschenbild passt das nicht zusammen.
Ein Mensch hat unterschiedliche Seiten, unterschiedliche Gesichter, wenn man so will. Diese Seiten können miteinander in Konflikt stehen. Manchmal setzt sich eine Seite über die anderen hinweg. Manchmal eine andere. Manchmal wirken alle zusammen. Was nun aus meiner Sicht eine ganz zentrale und wesentliche Seite eines Menschen ist: Sein entspanntes Ich. Das repräsentieren unter anderem die Schlüsse und Urteile, zu denen er kommt, wenn er nachdenken kann. Diese Seite setzt in Ausnahmesituationen allerdings meist aus. Deshalb würde ich eine Person um einen für mich sehr beträchtlichen Teil reduzieren, wenn ich ihren Krisenmodus als ihr wahres Gesicht annehmen würde.
Müsste ich das wahre Gesicht eines Menschen unbedingt beschreiben, würden mich vor allem Situationen interessieren, in denen er sich wohl und sicher fühlt und einigermaßen frei entscheiden kann, wie er sich verhält. Doch auch dann müsste ich stark vereinfachen und reduzieren. Deshalb möchte ich vom wahren Gesicht am liebsten gar nicht sprechen. An einzelnen Momenten lässt es sich bestimmt nicht festmachen.
"Du kannst doch nicht Äpfel und Birnen miteinander vergleichen."
Birnen sind oben am Stiel schmaler als Äpfel und tendenziell süßer. Ihre Struktur ist gröber, sie sind weniger knackig und nicht so säuerlich.
Ich kann Äpfel und Birnen prima miteinander vergleichen. Genau genommen muss ich sie sogar vergleichen, um sie zu unterscheiden und als zwei eigenständige Obstsorten zu erkennen. Unsinnig wäre es, sie miteinander zu messen und so etwas zu sagen wie "dieser Apfel ist besser als diese Birne, weil er saurer und oben viel breiter ist". Vergleichen heißt aber nicht messen. Es heißt auch nicht bewerten. Wenn ich die Begriffe allerdings gleichbedeutend verwende, fehlt mir ein Wort, um Dinge einfach nebeneinander zu stellen und die Beziehung zwischen ihnen wahrzunehmen, ohne sie in eine Rangfolge von gut nach schlecht zu pressen. Fehlt mir wiederum das Wort, verliere ich womöglich das dazugehörige Konzept. Das möchte ich nicht, denn wie gesagt: Indem ich Dinge miteinander vergleiche, kann ich sie erkennen als das, was sie jeweils für sich genommen sind und ausmacht.
Ich möchte gerne viel mehr miteinander vergleichen. Und vielleicht im Gegenzug ein bisschen weniger aneinander messen.
"Du verschwendest deine Zeit."
Leider weiß ich nicht (mehr), was Zeitverschwendung ist. Zumindest nicht generell. Wenn ich ein konkretes Ziel habe, zum Beispiel möglichst schnell meinen Einkauf zu erledigen, dann ist es sicherlich Zeitverschwendung, wenn ich statt dem direkten Weg zum Supermarkt eine Runde um den See jogge. Aber bezogen auf das Leben? Da kenne ich das Ziel nicht. Schon gar nicht das meines Gegenübers oder einer anderen Person. Selbst wenn ich Ostereier versteckt habe und der Mensch, der sie sucht, auf der völlig falschen Fährte ist, kann ich ihm nicht mit Sicherheit sagen, dass er seine Zeit verschwendet: Vielleicht findet er auf seiner Suche etwas anderes, über das er sich freut, oder verbessert dadurch seinen Orientierungssinn oder entwickelt seine Geduld. Wenn andere Menschen mir sagen können, womit ich meine Zeit verschwende und womit nicht, wissen sie vermutlich mehr als ich. Ich kann es anderen allerdings nicht sagen.
Morgen denke ich vielleicht schon wieder anders
Mit der Sprache ist es so eine Sache: Einerseits sprechen wir alle dieselbe (also an dieser Stelle offensichtlich Deutsch), andererseits haben wir alle unsere eigene. Was wir mit bestimmten Begriffen oder Sätzen verbinden, hängt von unserer Erfahrung ab, von unserer Perspektive, unseren Gedanken, unserer Einstellung und Interpretation - der Welt und der Worte. Das wiederum kann sich jederzeit verändern. Und es ist niemals absolut richtig oder falsch. So suche ich heute vielleicht das wahre Gesicht eines Apfels, indem ich ihn mit einer Birne vergleiche. Doch womöglich betrachte ich das morgen schon wieder als Zeitverschwendung.