Anlässlich des Volkstrauertages 2023 fand am vergangenen Sonntag im Anschluss an den Gottesdienst eine Gedenkstunde statt. Die Ansprache, die nachfolgend abgedruckt ist, und das Totengedenken übernahm in diesem Jahr Bürgermeister Christian Sommer.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie zu herzlich unserer Gedenkstunde am heutigen Volkstrauertag.
Am Volkstrauertag steht das Erinnern an den Schmerz und die Trauer im Mittelpunkt. Wir halten gemeinsam inne und erinnern uns an die millionenfachen Opfer von Kriegen und Gewalthandlungen, an alle, die ihr Leben verloren haben und an die, die unter den Unmenschlichkeiten des Krieges gelitten haben.
Für uns in Westeuropa war die Abwesenheit von Krieg seit über 70 Jahren so gut wie selbstverständlich. Unsere Aufgabe der vergangenen Jahrzehnte war es, die Erinnerung an die grausamen Schrecken der großen Kriege des 20. Jahrhunderts im kollektiven Gedächtnis wach zu halten und sie nicht verschwinden zu lassen. Es galt, das Bewusstsein zu erhalten dafür, dass die Zukunft und der Erhalt des Friedens in unseren Händen liegen.
Krieg in Europa ist jedoch keine Vergangenheit mehr. Er ist wieder grausame Gegenwart geworden. Mit dem menschenverachtenden Angriffskrieg auf die Ukraine traf uns die Realität der allumfassenden Gewalt des Krieges viel universeller und viel näher, als wir es seit Ende des 2. Weltkrieges für möglich gehalten hätten.
Mit dem Angriff der Hamas auf Israel vor wenigen Wochen ist ein weiterer Krieg im Nahen Osten ausgebrochen, der an Grausamkeit und Gewalt dem Krieg in der Ukraine in nichts nachsteht.
Und so gedenken wir heute nicht mehr nur der schrecklichen Folgen der Weltkriege.
Wir gedenken der Soldatinnen und Soldaten, die sinnlos sterben. Wir gedenken der Zivilistinnen und Zivilisten, die ihr Leben verlieren. Wir gedenken der Millionen Flüchtlinge und der Vertriebenen, die ihre eimat verlieren. Wir gedenken der Verschleppten und der Minderheiten, die machthungrigen Idealen zum Opfer fallen.
Wie viele Tränen angesichts der andauernden Gewalt vergossen werden, wie viel Not in Worten oder stumm zum Himmel geschrien wird – für uns hier nicht begreifbar und schlicht unvorstellbar.
Im Angesicht dieses unvorstellbaren Leides muss der heutige Volkstrauertag auch ein Tag sein, der uns gemahnt zur Versöhnung, zur Verständigung und zum Kampf um den Frieden.
Denn Frieden ist und muss mehr sein als die bloße Abwesenheit von Krieg. Frieden muss ein kontinuierlicher Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit, zunehmenden Verständnisses füreinander sein.
Damit ein solcher Friedensprozess gelingt, damit er bleibt und gelebt wird, wird von uns, die wir derzeit in Sicherheit leben, vor allem eines abverlangt: das Talent der widerständigen Menschlichkeit.
Widerständige Menschlichkeit fordert Stärke, Solidarität und Handeln. Sie fordert Mitgefühl, Achtsamkeit füreinander und konkrete, gelebte Nächstenliebe. Sie fordert, zu TUN.
Denn wenn wir Zeugen solch unsäglichen Leidens werden, wenn das Menschsein und die Menschenwürde mit Füßen getreten werden, bleibt nur eine Wahrheit bestehen: Dieses Leiden darf nicht sein und ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen.
Unsere Aufgabe hat sich gewandelt. Unsere Aufgabe ist es nicht mehr nur, die Erinnerung wach zu halten. Mehr denn je sind wir gefordert zu handeln und das Wissen aus der Grausamkeit unserer Vergangenheit umzusetzen.
Wir sind gefordert, aufzustehen, Hilfe zu leisten und solidarisch miteinander zu sein. Wir sind gefordert, denen Gutes zu tun, die angesichts dessen, was sie erleben müssen, gelebte und widerständige Menschlichkeit so dringend brauchen. Wir sind gefordert, einen Frieden zu erarbeiten und zu erhalten, der nicht die bloße Abwesenheit von Krieg ist. Frieden ist unsere wichtigste gesellschaftliche Aufgabe.
Ich bin sehr dankbar, dass der Friedensgedanke, diese widerständige Menschlichkeit in unserer Verbandsgemeinde jeden Tag gelebt wird.
Dass Humanität, Nächstenliebe und Solidarität mit denen, die die Leiden des Krieges erleben müssen und als Flüchtlinge bei uns Schutz suchen, lauter sprechen als der wieder erstarkende Populismus und das rechtsextreme Gedankengut, das sich in der Mitte unserer Gesellschaft verbreitet.
Lassen Sie uns weiterhin mit Achtsamkeit und Menschlichkeit mit einander umgehen. Lassen Sie uns solidarisch und widerständig menschlich sein. Lassen Sie uns jeden Tag, nicht nur am Volkstrauertag, mit offenen Herzen und in Frieden begegnen.“
Die Segensworte sprach Pfarrer Robin Braun vor der Kranzniederlegung am Ehrenmal.
Wir danken allen Beteiligten der Gedenkstunde, allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und denen, die sich jeden Tag gegen das Vergessen, gegen Hass und Gewalt engagieren.