Besetzung von Wellerode durch die Amerikaner im April 1945
Erinnerungen von Horst Mendel, damals 5 Jahre alt.
Unsere Familie wohnte zu dieser Zeit im sogenannten Söhrebahnhaus in der Stellbergstraße 4 in Wellerode Wald. In diesem Haus gab es 6 Wohnungen, die Mieter waren Mitarbeiter der Söhrebahn mit ihren Familien, weil dieses Haus der Söhrebahn gehörte.
Unsere Familie bestand damals aus 4 Personen, und zwar aus
meinem Vater Friedrich, er war Zugführer bei der Söhrebahn, und war als Eisenbahner als „uk“ für unabkömmlich eingestuft worden, was bedeutete, dass er nicht zum Militär eingezogen wurde
meiner Mutter Berta, sie war Hausfrau
meinem Bruder Fritz, er war damals 15 Jahre alt und Lehrling für Flugzeugbau bei der Firma Fieseler Flugzeugwerke in Kassel
und mir (Horst), ich war noch zu Hause, da es in dieser Zeit noch keinen Kindergarten in Wellerode gab.
Ungefähr eine Woche vor dem Eintreffen der Amerikaner am Ostermontag rückte eine deutsche Panzerkolonne von Lohfelden kommend in Wellerode ein, um die von Melsungen anrückenden Amerikaner aufzuhalten. Bei der Besatzung der Panzer handelte es sich um ganz junge Soldaten, die das dringende Bedürfnis hatten, sich einmal ordentlich waschen zu können. So kamen auch zwei der Soldaten zu uns in unsere Wohnung, die Zinkwanne mit Wasser wurde auf einen Stuhl in der Küche gestellt und los ging die große Reinigung. Die Soldaten waren sehr dankbar, dass wir Ihnen diese Möglichkeit zum Waschen gegeben hatten, die Bewohner bei uns im Haus waren jedoch über die Anwesenheit der deutschen Panzerkolonne in Wellerode gar nicht glücklich. Meine Mutter sagte zu den Soldaten: „Bleibt nur nicht hier in Wellerode, sonst schießen die Amerikaner unser Dorf kurz und klein.“ Die Soldaten hatten natürlich keinen Einfluss über das weitere Vorgehen, ließen jedoch durchblicken, dass sie auch nicht an einem Kampf mit den Amerikanern interessiert waren. Die Panzer fuhren dann weiter in Richtung Wattenbach, kamen jedoch am anderen Tag wieder zurück und fuhren weiter in Richtung Kassel.
Mein Vater war inzwischen - wie andere Söhrebahner auch - zum Volkssturm einberufen worden. Nach einer kurzen Einweisung erhielten sie den Auftrag, vor dem Anrücken der Amerikaner auf der Straße zwischen Wattenbach und Wellerode vor der ersten S-Kurve eine Panzersperre aus gefällten Bäumen zu erstellen, um die amerikanischen Panzer aufzuhalten. Das war natürlich sinnlos, aber der Befehl musste ausgeführt werden.
Mein Bruder erhielt ca. 2 Wochen vor Ostern den Einberufungsbescheid zum Militär und sollte sich am Ostersamstag (31. März) vormittags auf dem Schulhof der Schule Wellerode einfinden. Von hier sollten die Jungen dann zu einer Sammelstelle in Ihringshausen gebracht werden.
Am Gründonnerstag (29. März) hat meine Mutter abends einen Rührkuchen gebacken, den mein Bruder als Marschverpflegung am Ostersamstag mitnehmen sollte. Er war an diesem Abend mit Freunden unterwegs, hatte aber zu Hause nicht gesagt, was sie vorhatten. Das erfuhren wir dann als er nach Hause kam und berichtete: „Wir haben die Amis schon gesehen, die sind schon in Eiterhagen.“ Am Ostersamstag (31. März) hat sich dann mein Bruder unter vielen Tränen meiner Mutter auf den Weg zum Sammelpunkt auf dem Schulhof gemacht. Eine Stunde später war er wieder zu Hause und berichtete: „Der Bürgermeister hat uns begrüßt und dann gesagt: „Jungs, macht Euch wieder nach Hause, hier ist nichts mehr zu retten und bis man in Ihringshausen merkt, dass die Welleröder nicht da sind, haben die Amerikaner Wellerode schon besetzt.“ Hier hat der Bürgermeister sehr viel Mut bewiesen, denn hätten die entsprechenden Nazi-Behörden von dieser Aktion erfahren, hätte man ihn mit Sicherheit sofort zum Tode verurteilt.
Bereits ungefähr eine Woche vor Ostern hatten die Männer aus unserem Hause damit begonnen, einen Unterstand im Wald in der Nähe des heutigen Holzlagerteiches zu bauen. Er bestand aus Brettern, eine Seite war offen und als Dach dienten ein paar alte Planen. Hier sollten die Familien des Hauses unterkommen, wenn die Amerikaner anrückten.
Da alle Bewohner des Söhrebahnhauses verschiedene Haustiere hatten, war es gar nicht so einfach, den richtigen Zeitpunkt zum Verlassen der Wohnung und vorübergehenden Umsiedlung in den Unterstand im Wald zu finden. Am Ostersamstag (31. März) wurden abends noch die Tiere versorgt und dann ging es mit Handwagen, auf denen ein paar wichtige oder praktische Dinge transportiert wurden, in den Wald. Im Vorfeld wurde erzählt, dass man die Wohnungen nicht abschließen sollte, da die amerikanischen Soldaten diese sonst gewaltsam öffnen würden. Also ließen wir unsere Wohnung unverschlossen, wenn auch nicht gerne, denn es gab zu dieser Zeit auch jede Menge Plünderer, die die Gunst der Stunde nutzten.
Mein Vater musste mit anderen Männern die Panzersperre bewachen und sie hatten den Befehl, bei Anrücken der Amerikaner diese zu verteidigen. Am Ostermontag morgens gegen 5.00 Uhr rückten die Amerikaner von Wattenbach kommend vor. Es wurden einige Schüsse aus den Panzern abgefeuert und die Panzersperre war Geschichte. Die Männer schmissen ihre Gewehre in den Wald und hauten so schnell wie möglich ab. Sie kamen kurze Zeit später an unserem Unterstand an, waren völlig fertig, und berichteten uns von den Geschehnissen.
Wir warteten dann noch ein paar Stunden im Wald, schließlich wurde beschlossen, dass zwei oder drei Erwachsene sich vorsichtig an unser Haus anschleichen sollten, um zu sehen, wie die Lage ist. Mein Bruder und zwei andere Jugendliche übernahmen diesen Auftrag. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie, dass die Amerikaner inzwischen Wellerode Wald besetzt hatten. Nach kurzer Diskussion war man sich einig, vorsichtig zurück zu unserem Mietshaus zu gehen. Wir gingen dann aus dem Wald in Richtung des Hauses und stellten fest, dass die Amerikaner auch unser Haus besetzt hatten und bewachten. Wir sahen die ersten Amerikaner und vor allem zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen. Als sich Anfang 1945 immer mehr abzeichnete, dass der Krieg für die Deutschen längst verloren war, wurden von der Nazipropaganda alle möglichen Parolen verbreitet. Eine davon war, dass die dunkelhäutigen Amerikaner angeblich ganz gefährliche Leute wären, entsprechend war auch unsere Angst, besonders natürlich meine. Es stellte sich dann aber schnell heraus, dass die Amerikaner – und hier vor allem die dunkelhäutigen – ganz lieb zu uns Kindern waren. Manche schenkten uns Kindern Schokolade und natürlich Kaugummi, was wir ja überhaut nicht kannten. Zu der Nazipropaganda gehörte auch, dass verbreitet wurde, nichts Essbares von den Amerikanern anzunehmen, da die uns vergiften wollten. Das war natürlich überhaupt nicht der Fall, aber unsere Eltern waren trotzdem skeptisch.
Die Verständigung mit den Amerikanern war schwierig, da zu dieser Zeit keiner von den Hausbewohnern englisch sprechen oder verstehen konnte. Irgendwie hat man den amerikanischen Soldaten aber zu verstehen gegeben, dass wir die Bewohner dieses Hauses waren und nach kurzer Besprechung durften wir in unsere Wohnungen zurückkehren. Wir stellten dann fest, dass die Amerikaner in der Wohnung waren, weil sie alle Häuser nach deutschen Soldaten absuchten, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein. Eine der Familien hatte ihre Wohnung beim Verlassen am Samstag verschlossen, hier wurde das Schloss zerschossen, um sich Zugang zu verschaffen.
Nach und nach hielt der Alltag wieder Einzug, manches war anders, aber man gewöhnte sich an die Amerikaner und war vor allem froh, dass dieser fürchterliche Krieg – zumindest in Wellerode – zu Ende war.