Waldgasthaus Franz Räder
von Erich Haldorn (Teil 4)
Bis 1946 erledigte Frau Bokelmann die schriftlichen Arbeiten. Dann wurde Finchen Hartmann (später Dümer) aus Uschlag eingestellt, sie kam auch von Fieseler. 1947 kam Frau De Fries. Da Bokelmann selbst am Zeichenbrett die Werkzeuge entwarf und aufs Papier zeichnete, die Aufträge liefen sehr gut, wurde ein Konstrukteur, der Ing. Werner Wichert aus Kassel, eingestellt. Er kam ebenfalls von Fieseler. Wenn Herr Bokelmann außer Haus war, hatte Herr Wichert die Vertretung. Außer Meister Stoll, Herr Wichert und Herr Bokelmann, waren wir alle beim „Du“. 1947 wurde ein zweiter Lehrling eingestellt. Damals fragte niemand danach, ob du die Meisterprüfung oder die Ausbildereignungsprüfung hattest. Bokelmann selbst war Ingenieur.
Frau Meta Plinke wohnte gegenüber vom Haus Coß. Das Haus Plinke wurde 1945 durch Artilleriebeschuss zerstört. Der Ehemann war gefallen. Frau Plinke hatte Herrn Bokelmann gefragt, ob ihr Sohn Gustav bei ihm als Lehrling anfangen könnte. Nachdem er zugesagt hatte, sagte sie noch zu Bokelmann: „Nehmen Sie den Jungen ruhig streng ran, auf mich hört er nicht mehr“. Eines Montagmorgens kam Meta Plinke in die Werkstatt und sagte zu Bokelmann: „Der Gustav will heute nicht an die Arbeit. Er ist gestern Abend spät nach Hause gekommen und er sagt, er sei krank, gehen sie doch mal mit“. Bokelmann, im Arbeitskittel, ging mit Frau Plinke über die Straße und nach 10 Minuten kam Gustav mit dickem Schal in die Werkstatt. Er hat nie mehr gefehlt! Einige Zeit später, Gustav saß im Klohäuschen, da kam Erhard, der etwa 10-12 Jahre alte Sohn von Bokelmann, in die Werkstatt und rief zu seinem Vater: „Aus dem Klo kommt Rauch!" Es war ein Plumpsklo mit einem Bretterbeschlag. Gustav kam vom Klo. Heinz Bokelmann, ein gebürtiger Berliner, sagte: „Justav haste gerocht?“ Gustav antwortete: „Nein, Herr Bokelmann“. „Mach mal dein Mund auf“, sagte Heinz Bokelmann. Ein kurzer Geruchstest und schon bekam Gustav eine kräftige Ohrfeige. Gustav hat meines Wissens nie mehr bei der Arbeit geraucht.
1941 erhielten wir in Kriegszeiten als Lehrling bei den Junkers Flugzeugwerken 5,00 Mark. 4,00 Mark waren wöchentlich in der Lohntüte. Eine Mark war Zwangssparen, zuzüglich der Beitrag zur Arbeitsfront. 12 Tage Urlaub. Nach Beendigung der Lehrzeit wurde der Betrag vom Zwangssparen ausgezahlt.
1946, 1 Jahre nach Kriegsende, hatten Heinz Bokelmanns Lehrlinge im ersten Ausbildungsjahr 5,00 Mark (ca. 2,55 €) wöchentlich in der Lohntüte und 12 Tage Urlaub, inkl. Samstag.
Zum Vergleich: 2023 bekam ein Auszubildender (Azubi) monatlich in der Autoindustrie im ersten Ausbildungsjahr 1149,00 € (ca. 2246,00 DM) und zuzüglich 30 Tage Urlaub, ohne Samstag. Die Bezeichnung Lehrling oder Stift gab es nicht mehr.
Willi Kater und ich hatten in den 3 Jahren, in denen wir täglich nach Landwehrhagen fuhren, 5 verschiedene Haarschneider. Wir waren bestrebt, immer einen modernen und günstigen Haarschnitt zu bekommen. Folgende Friseure wurden aufgesucht: Der alte Lappe am Teich und Salon Schüßler, beide in Landwehrhagen. In Benterode gingen wir zu unserem Kollegen Fritz Gartmann und dem alten Zuschlag. (genannt: Tausendthaler). In Uschlag war der Salon Otto Schön. Otto Schön war der Beste. Wir zahlten etwa 95 Pfennige für den Fasson-Schnitt. Unser Stundenlohn betrug 85 Pfennige, der sich später auf 1,10 Mark erhöhte.
Im Sommer 1947 hatten wir ein Betriebsfest in der Waldgaststätte von Franz Räder in Kragenhof. Leider wurde die Gaststätte später wegen Erweiterung und Umlegung der Straße abgerißen. Franz Räder und Heinz Bokelmann waren befreundet und hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Räder war Jäger und es gab Wildschweingulasch mit entsprechenden Beilagen. Bokelmann sagte: „Heute sagen alle „Du“ zu einander, das gilt aber nur heute!“. Jetzt war unser Chef der „Heinz“ seine Frau, die „Gertrud“. Wichert, sein Vertreter „der Werner“ und Meister Stoll „der Hermann“. Lediglich die Lehrlinge hielten sich zurück mit dem „Du“ zum Chef. Es gab auch selbst gebrannten Schnaps. Bokelmann war, wie man früher sagte, ein Schürzenjäger. Mit der Bürogehilfin Frl. De Fries, die in Sichelstein wohnte, machte Heinz zu später Stunde Anspielungen. Seine Frau Gertrud hatte dieses mitbekommen. Sie verließ den Raum und kam nicht mehr zurück. Nach einiger Zeit bemerkte es Herr Bokelmann und sagte: „Wir gehen alle raus und suchen Gertrud“. Das Gasthaus lag mitten im Wald. Wir fanden Gertrud nicht und das Betriebsfest war zu Ende. Am andern Tag erfuhren wir, dass Frau Bokelmann allein in der Nacht nach Hause gegangen war.
1947 wurde Friedhelm Zuschlag als Werkzeugmacher eingestellt. Friedhelm hatte auch bei Junkers in Kassel gelernt. Wir kannten uns aus der Lehrzeit. Friedhelm und Ursel Schäfer, als „Bachmanns Ursel“ bekannt, haben später geheiratet. Friedhelm Zuschlag war bis zur Rente bei der Firma Bokelmann in Hann. Münden tätig. Friedhelm wurde 1978 für 40-jährige Betriebszugehörigkeit bei der Firma Bokelmann von der IHK ausgezeichnet. Ursel erzählte bis zu ihrem Tode von den Erlebnissen beim Betriebsfest 1947, wo Ursel ebenfalls eingeladen war.
In der Zeit von 1946, bis zu meinem Ausscheiden 1948, war eine rege Personalfluktuation. Otto Schäfer aus Uschlag war Werkzeugmacher. Er hatte bei Henschel gelernt. Otto musste an der Flächenschleifmaschine etwas bearbeiten. Hier war ihm ein Fehler unterlaufen und die Schleifscheibe ging zu Bruch. Bokelmann sagte zu Otto: „Sie besorgen mir eine neue Schleifscheibe“. Am anderen Tag kam Otto und holte seine Papiere. Otto sagte zu uns: „Wo kann ich
denn eine Schleifscheibe beschaffen, er hat doch die Verbindung zu den
Lieferanten. Das kann er mit mir nicht machen“. Ebenso erging es Karl Schäfer aus Uschlag.
Willi Lappe aus Landwehrhagen war auch eine Zeit bei Bokelmann beschäftigt. „Das ist nichts für mich, ich bin Feinmechaniker und gehe wieder nach Kassel.“
Für die Meldung von Unfällen hing ein kleiner Kasten im Büro. Kleinere Verletzungen wurden von Heinz Bokelmann selbst behandelt. Einen größeren Unfall möchte ich hier beschreiben.
Nach dem furchtbaren Krieg 1939 - 1954 war in vielen Familien Trauer und Schmerz an die gefallenen und vermissten Ehemänner, Söhne, sowie noch in Gefangenschaft vermuteten. Ebenso hatten die Vertriebenen aus den Ostgebieten ihre Heimat verlassen müssen. Wenn man kein Selbstversorger und nur auf die Lebensmittelkarten angewiesen war, dann war das Leben schwer zu ertragen. Selbstversorger waren kleinere oder größer Landwirte. Trotz der Vorgaben der Militärregierung und Kontrollen bei Nichtabgabe der vorgeschriebenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, konnte man immer noch ausreichend Lebensmittel zum Eigenverbrauch behalten. Auch unter hoher Androhung der Strafen wurden Schweine schwarz geschlachtet. Dieses wurde besonders nachts vollzogen.
Der Hunger nach Vergnügungen und Lustbarkeit war besonders groß nach dem Krieg. An jedem Wochenende war auf den Dörfern im Obergericht ein Tanzvergnügen. Moderne Tänze wurden getanzt. Es gab sehr gute Tanzkapellen. Hier war die Kapelle Ernst Krug aus Hann. Münden bekannt. In der Burgstraße in Münden wurde eine Variete-Veranstaltung mit Musikbegleitung von Ernst Krug angeboten. Auch wir Jugendlichen gingen von Nienhagen nach Münden zu dieser Veranstaltung. Es war ein Fußmarsch hin und zurück von 22 km. Auf dem Bahnhofsgelände Münden befand sich ein florierender Schwarzmarkt. Hier konnte man sehr viele Gebrauchsgegenstände aller Art, die man ansonsten in keinem Geschäft erwerben konnte, mit hohen Preisen kaufen. Es wurden insbesondere amerikanische Tabakwaren angeboten. Auch ich kaufte mir eine Chesterfield Zigarette.
Fritz Gärtner kam aus der Gefangenschaft. Er stammte aus Ostdeutschland und wollte dorthin nicht mehr zurück.
Fritz bediente die Fräsmaschine, die neben meiner Drehbank stand. Bevor Fritz eingestellt wurde, bediente Walter Krug aus Benterode die Fräsmaschine. Auf einmal sagte Fritz „ich habe mich verletzt“. Da sah ich, wie er die Hand hielt, und eine Fingerkuppe auf dem Frästisch lag. Fritz hatte einen größeren Scheibenfräser auf der Frässpindel und wollte vom eingespannten Werkstück und laufender Maschine einen Span beseitigen. Der Finger blutete nicht. Bokelmann kam und sagte: „Wir fahren nach Hann. Münden ins Krankenhaus“. Fritz sagte: „Ach was, das geht schon, machen sie einen Verband drum.“ Nach einer Weile sagte Fritz: „Jetzt bekomme ich starke Schmerzen“ und ließ sich ins Krankenhaus nach Hann. Münden fahren. Er war einige Tage arbeitsunfähig. Die Fingerkuppe lag noch auf dem Frästisch. Mit dem Handfeger habe ich die Kuppe auf ein Kehrblech geschoben und fragte die Kollegen: „Was nun?“ „Bring sie auf die Miste von Spohr“, sagten sie. Somit war die Entsorgung erledigt. Die Miste von Adolf Spohr war unser “Mülleimer“. Spohr hat nie gemeckert. Jeden Morgen brachte er neuen Mist auf unseren Müll. Die Dreh- und Frässpäne wurden gesammelt und von einem Schrotthändler abgeholt.
(Schluss folgt)