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Ausgabe 45/2024
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Hallo Marienhagener

Marienhagen

Historie Nr. 48 – 1989: Grenzöffnungen nach dem Mauerfall –

Marienhagener und Korbacher live dabei…

Der 09. November steht in den Geschichtsbüchern oder „im Internet“ u. a. als der Tag, an dem im Herbst 1989 die „Mauer fiel“. Aber das war erst der Anfang. Die Menschen der DDR durften noch überall in der Nacht zum 10. November – nach den ersten Stunden nun beinahe ohne Probleme – in die Bundesrepublik einreisen…

Waren es bis zum folgenden Samstag fast ausschließlich die bereits bestehenden Grenzübergänge wie Selmsdorf (Landkreis Grevesmühlen) Marienborn/Helmstedt (Autobahn), Wartha (Kreis Eisenach), Meiningen oder Hirschberg (Autobahn) und natürlich die vielen Übergänge in Berlin, so öffnete die DDR in den Folgetagen weitere Übergänge zu den Bundesländern.

Zusätzlich bestanden bereits seit der Gründung der DDR Grenzübergänge für Eisenbahnen und Wasserfahrzeuge. Vor dem „Mauerfall“ existierten insgesamt 45 zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie zwischen Berlin (West) und der DDR. Keiner von ihnen durfte freilich von „normalen“ DDR-Bürgern benutzt werden, nur für Rentner gab`s Ausnahmen.

Doch das sollte sich schon am zweiten November-Wochenende ändern. Sowohl im TV als auch im Radio, in Waldeck-Frankenberg wohl überwiegend in den Programmen des HR, des WDR oder des NDR, überschlugen sich die Meldungen und Ankündigungen. Der neue Sender „Radio FFH“ ging erst am 15. November 1989 auf Sendung, schaffte es damals allerdings von der ersten Sendeminute an, die einmalige Atmosphäre in das Hessenland und die Nachbarregionen zu transportieren…

Das Verlesen der geplanten Öffnungen entlang der 1.400 Kilometer langen Grenze wurde in jeder Nachrichtensendung wiederholt. Viele Ortsnamen zählten die Sprecher auf, die meisten Stellen waren damals unbekannt, lagen sie doch dort, wo über Jahrzehnte niemand hin wollte, dösten sowohl im Westen als auch im Osten fast in einem Dornröschenschlaf.

In dem Moment, als der Dorfname „Hohengandern“ in Thüringen, ganz in der Nähe von Witzenhausen, fiel, stand für einige Marienhagener und Korbacher fest: „Dort werden auch wir am Sonntag sein, ganz früh wollen wir aufbrechen…!“ Witzenhausen kannten die Marienhagener schließlich von Holunderbeeren-Auslieferungen nach Unterrieden und Leichtathletikfesten (mit dem TV Marienhagen) her.

So machten sich Rolf, Eva und Nina Ratzkowski sowie Elke Ratzkowski-Kubat, Karina, Moritz und der Verfasser dieses Berichtes schon um sieben Uhr auf, um auch pünktlich im Nordosten Hessens anzukommen, im Dreiländereck zur DDR und mit Niedersachsen. Schwankte die Stimmung schon bei der Abfahrt zwischen „froher Erwartung“, „Abenteuer..“ und „Wir sind dabei…“, steigt in Höhe des Frau-Holle-Berges „Hoher Meißner“ die Spannung rapide. Immer mehr Trabis kommen der kleinen Gruppe entgegen, „tröten“ irgendwie lautstark oder machen sich bei jedem West-Fahrzeug, das ihnen entgegensteuert, heftig mit der Lichthupe bemerkbar. Doch woher stammen sie?

„Wir kommen zu spät, die Grenze ist bereits geöffnet…“, wirken sie, zumindest die Erwachsenen, ein wenig frustriert… Gerade das Durchtrennen des sehr hohen Zaunes wollen alle doch live miterleben…

Dennoch: Urplötzlich, kurz hinter Witzenhausen an der Werra, der Stadt der Kirschen, geht fast nichts mehr, die hessischen Straßen bergan „Richtung DDR“ sind total verstopft von PKW und Menschen. Die gesamte Breite der Bundesstraße wird einfach genutzt. Es ist trocken an diesem Tag, leicht neblig, gleich wird die Sonnen alles erstrahlen lassen. Das ist die Mystik der Geschichte. Zu Fuß starten die Marienhagener, die Korbacher. Je näher sie nach einer halben Stunde dem Ziel des Unterfangens kam, desto interessanter und eigenartiger wird die Luft über der gesamten angespannten Lage. Woran liegt das?

Die Anhöhe ist erreicht, sie sind am Ziel. Da blicken, starren sie fast, dicht an dicht, gen Osten und warten auf das, was wohl passiert. Hier ist er, der gewaltige Metallgitterzaun, in dem kein Finger auch nur annähernd hätte irgendwie Halt finden können zum Hinüberklettern.

Sie stehen aufgereiht, Stoßstange an Stoßstange, und hoffen… – schon seit einigen Stunden, wie später gerne erzählt wird. Seltsame Motorgeräusche hallen über die Felder und Wiesen. Rehe laufen aus Hecken fort, dort liegt ein großer Grenzstein mit der Nummer 159.

Ein junger Grenzsoldat der DDR, sehr angespannt wirkt er, stellt eine Leiter an den Zaun, macht sie oben am Metall und an einem der ungezählten Betonpfosten zu schaffen. Bundesbürger rücken näher, wollen sehen, was dort passiert… Es dauert. Doch irgendwann ist es soweit. Der Zaun wird von oben mit Mühe durchtrennt, hier und auch noch einmal zehn, elf Meter weiter. Er musste schließlich lange, lange den Feind abwehren helfen. Es soll, es muss Platz entstehen für die allererste Durchfahrt von Autos und Fahrräder, sogar für tuckernde Trecker, für Frauen und Männer zu Fuß, einige mit Kinderwagen.

Eva, Nina und Moritz haben plötzlich Luftballons dabei. Woher die jetzt stammen, ist völlig egal. „Die haben wir mal eingepackt“, lachen sie. Ein fremdes Kind bekommt auch einen, ebenso die Mama und eine Oma. Mehrere werden aufgepustet, bei der mit blaugrauen Benzindämpfen geschwängerten Luft gar nicht so einfach. Der Wind weht aus dem Osten. Die Mädchen wollen die Ballons an die Grenzsoldaten verschenken, aber der eine steht viel zu weit oben auf der Leite. Er hat eine einzigartige Aufgabe, diese erstmals in seinem Leben. Dürfen sie das, ihn stören? Da packt sich Elke die kleine Nichte Nina, hebt sie hoch… - und jetzt klappt es. Der junge Mann hinter dem Zaun streckt die Hand aus, Nina gleichfalls, drückt den Luftballon mit den kleinen Fingern in die Höhe, und ihre Blicke begegnen sich.

Ein weißer Ballon lässt alle ehrlich strahlen, die Kinder, den DDR-Soldaten und viele andere kleine und große Leute an der innerdeutschen Grenze. Die Sängerin Nena hatte sechs Jahre zuvor 99 Ballons in die Luft steigen lassen, an diesem historischen Tag genügen wenige, um frohe und fröhliche Stimmung weiter anzufachen… Trotzdem fließen Tränen, gar nicht wenige; das jedoch ist überhaupt nicht schlimm…

Es geht los. Der Zaun liegt um, wird fortgeschleppt wie Altmetall auf dem Weg zum Schrotthändler. 12:25 Uhr zeigen die Uhren an: Die Karawane setzt sich in Bewegung. Die Spitze stößt unmittelbar an den Ort des Geschehens, das Ende erahnt man nur, liegt weit in der Ferne in Thüringen. Ein Ost-Auto will nicht sofort anspringen. Aber es gibt doch so tolle Tricks. Jubel brandet auf, vermischt sich abermals mit Begeisterungsrufen, wird plötzlich erstickt bei der ersten Umarmung mit Verwandten und Freunden – oder mit Fremden… Küsse folgen, dann zaghafte Gespräche von Hessen mit Thüringern, von DDR-Bürgern mit Bundesrepublikanern. Man ist glücklich, froh, dankbar…

Bis zum 03. Oktober 1990 sollte es noch dauern, dann würde dieser historische Ort keine Grenze mehr sein. Dort, wo sich die Menschen am 12. November 1989 – einem Sonntag - in den Armen liegen, verbindet heute die B 80 zwei benachbarte deutsche Bundesländer. Zu unseren Bildern: Nina Ratzkowski-Kubat schenkt einem jungen DDR-Grenzsoldaten einen weißen Ballon. Sie wird hochgehoben von ihrer Tante aus Marienhagen. Jahre später: 52 Mädchen und Jungen der Burgwaldschule mit ihren Lehrern Sandra Denman, Kevin Kulss sowie Hans-Frd. Kubat bilden mit einer langen Kette den ehemalige Grenzverlauf nach… - und hören gespannt die Geschichte zur Geschichte aus 1989…

Fotos: Hans-Friedrich Kubat, Marienhagen