In dem schönen Dorf Marienhagen befindet sich im alten Ortskern ein imposantes Haus, das einiges über unser aller Vergangenheit, unser Leben miteinander, über Kriege, Notzeiten und Sterben, aber auch über viele schöne Dinge der Gemeinsamkeiten, über Frieden, Wohlstand, Hochzeiten und Vereinsleben berichten kann. Ein Bestandteil hiervon ist das Leben jüdischer Bürger unter und mit uns, ein kleiner Teilbereich über die Geschichte ihrer wechselhaften Eigentumszuordnungen soll hier vor dem Vergessen-Werden bewahrt werden:
Im Schulweg 8 (früher 12) steht ein Fachwerkhaus, auf alten Postkarten kann man es noch bewundern oder man schaut es sich selber direkt einmal an, mit symmetrisch angeordneten Holzbalken, -riegeln und -streben, die Gefache meist mit Lehm-/Holzgeflecht ausgeputzt, das in seinem Ursprung zunächst aus einem Bauernhaus mit Stall und Scheune bestanden hat und im Laufe der Jahre mit einer Gastwirtschaft und Pension „Zum Grünen Kranze“ sowie einem kleinen Ladengeschäft erweitert wurde. Später avancierte es entsprechend der nationalen Zeit zum „Hotel Germania“, um in den 1960er Jahren zunächst als Landschulheim und in der heutigen Zeit als Wohnhaus genutzt zu werden.
Aber fangen wir mit unserer Geschichte langsam – so weit wie möglich - von vorne an1:
Inschriften in Balken oder sonstige technische Hinweise von den Erbauern, den Handwerkern oder z.B. von den Zimmerern sind leider nicht zu finden, aber es gibt eindeutige Belege zum Werdegang und den wechselnden Besitzverhältnissen in einer umfangreichen Akte des Königlichen Amtsgerichtes in Corbach, dem Königlichen Gericht in Vöhle und dem Königlichen Ortsgericht zu Marienhagen.
Erster historisch im Grundbuch eingetragener Eigentümer des Hauses und der Grundstücke war Josef Kratzenstein2, der den Besitz mit seinem Tod 1896 nicht an seine Ehefrau Karoline, sondern direkt an seinen jüngsten Sohn Selig3 vererbte – seine Frau erhielt dafür ein lebenslanges Wohn- und Verköstigungsrecht eingetragen. Die beiden Töchter Jettchen und Regine verzichteten auf ihre Erbansprüche4.
Selig Kratzenstein verstarb 1919 und vererbte das Haus an seine Tochter Hedwig, die im selben Jahr Max Winter heiratete und das Haus samt Grundstücken an ihren Ehemann überschreiben ließ5. Als Miterben erhielten ihre Geschwister Hermann 600 Mark, Hertha 5.000 Mark und Julius 1.000 Mark sowie die Kosten für seine Lehrerausbildung im Wert von bis zu max. 2.500 Mark6. Auch Dina, die Ehefrau von Selig, verzichtete auf ihr Erbe und erhielt dafür aber die Eintragung eines Nießbrauches7.
Am 27.12.1935 wurde das Haus an die beiden Holländer Akkermann und Stevens je zur ideellen Hälfte schuldenfrei und mit sämtlichem Inventar übertragen. Im Gegenzug erhielt die Familie Winter zwei Häuser in Holland Enschede, Brüggersteeg Nr. 277 und 279 mit „Allem was wand-band-niet-nagelfest mit dem Haus verbunden ist“. Zusätzlich übernahmen Winters eine Grundschuld in Höhe von 4.200 Gulden und trugen die Kosten des genannten Tauschvertrages8.
Am 02.09.1938 wurde dann in einem Auseinandersetzungsvertrag zwischen den Herren Akkermann und Stevens festgelegt, dass das Gebäude und die Grundstücke in Marienhagen zum Alleineigentum von Herrn Stevens erklärt wurden.
Am 17.01.1949, also nach Krieg und Holocaust, beantragten Frau Herta Maier geb. Kratzenstein, Herr Julius Kratzenstein (nun Dr. Julius Josef Kratzenstein) u. Frau Hilde Meyer/Cohen geb. Kratzenstein die Rückerstattung des Hauses beim Landgericht Gießen – der Antrag wurde jedoch als unbegründet abgewiesen, da „keine Tatsachen vorliegen, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, dass der Tauschvertrag auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus nicht abgeschlossen wäre… und zudem ein angemessener Gegenwert bei den Enscheder Tauschgrundstücken vorliegt“.
Am 15.09.1950 heiratete Herr Stevens seine Frau Josefine geb. Winter9 und am 21.09.1950 übertrug Hr. Stevens in einem Schenkungsvertrag das Haus und die Grundstücke an seine in Gütertrennung lebende Ehefrau.
1981 erwarb der „Schullandheim-Verein Marienhagen des Gymnasiums Stadtmitte und des Reinhard und Max Mannesmann Gymnasiums Duisburg“ das Haus, 1997 ging es in Privatbesitz über und seit 2016 ist der jetzige stolze Eigentümer Herr Nick Albrecht, der es auch mit ermöglichte, diese Geschichte eines alten jüdischen Hauses zu schreiben.
Eine Haustafel, initiiert von dem Förderkreis „Synagoge in Vöhl e.V.“ und finanziert vom Landkreis Waldeck-Frankenberg, erinnert nun vor Ort an diese „Haus-Geschichte“.
Die feierliche Übergabe dieser Haustafel erfolgt am 23.03.2024 um 14 Uhr im Schulweg 8 in Marienhagen.