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Blick in unsere Grossgemeinde
Ausgabe 9/2024
Vereine und Verbände
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Die Geschichte eines alten jüdischen Hauses….

oder
eine Geschichte wider das Vergessen

In dem schönen Dorf Marienhagen befindet sich im alten Ortskern ein imposantes Haus, das einiges über unser aller Vergangenheit, unser Leben miteinander, über Kriege, Notzeiten und Sterben, aber auch über viele schöne Dinge der Gemeinsamkeiten, über Frieden, Wohlstand, Hochzeiten und Vereinsleben berichten kann. Ein Bestandteil hiervon ist das Leben jüdischer Bürger unter und mit uns, ein kleiner Teilbereich über die Geschichte ihrer wechselhaften Eigentumszuordnungen soll hier vor dem Vergessen-Werden bewahrt werden:

Im Schulweg 8 (früher 12) steht ein Fachwerkhaus, auf alten Postkarten kann man es noch bewundern oder man schaut es sich selber direkt einmal an, mit symmetrisch angeordneten Holzbalken, -riegeln und -streben, die Gefache meist mit Lehm-/Holzgeflecht ausgeputzt, das in seinem Ursprung zunächst aus einem Bauernhaus mit Stall und Scheune bestanden hat und im Laufe der Jahre mit einer Gastwirtschaft und Pension „Zum Grünen Kranze“ sowie einem kleinen Ladengeschäft erweitert wurde. Später avancierte es entsprechend der nationalen Zeit zum „Hotel Germania“, um in den 1960er Jahren zunächst als Landschulheim und in der heutigen Zeit als Wohnhaus genutzt zu werden.

Aber fangen wir mit unserer Geschichte langsam – so weit wie möglich - von vorne an1:

Inschriften in Balken oder sonstige technische Hinweise von den Erbauern, den Handwerkern oder z.B. von den Zimmerern sind leider nicht zu finden, aber es gibt eindeutige Belege zum Werdegang und den wechselnden Besitzverhältnissen in einer umfangreichen Akte des Königlichen Amtsgerichtes in Corbach, dem Königlichen Gericht in Vöhle und dem Königlichen Ortsgericht zu Marienhagen.

Erster historisch im Grundbuch eingetragener Eigentümer des Hauses und der Grundstücke war Josef Kratzenstein2, der den Besitz mit seinem Tod 1896 nicht an seine Ehefrau Karoline, sondern direkt an seinen jüngsten Sohn Selig3 vererbte – seine Frau erhielt dafür ein lebenslanges Wohn- und Verköstigungsrecht eingetragen. Die beiden Töchter Jettchen und Regine verzichteten auf ihre Erbansprüche4.

Selig Kratzenstein verstarb 1919 und vererbte das Haus an seine Tochter Hedwig, die im selben Jahr Max Winter heiratete und das Haus samt Grundstücken an ihren Ehemann überschreiben ließ5. Als Miterben erhielten ihre Geschwister Hermann 600 Mark, Hertha 5.000 Mark und Julius 1.000 Mark sowie die Kosten für seine Lehrerausbildung im Wert von bis zu max. 2.500 Mark6. Auch Dina, die Ehefrau von Selig, verzichtete auf ihr Erbe und erhielt dafür aber die Eintragung eines Nießbrauches7.

Am 27.12.1935 wurde das Haus an die beiden Holländer Akkermann und Stevens je zur ideellen Hälfte schuldenfrei und mit sämtlichem Inventar übertragen. Im Gegenzug erhielt die Familie Winter zwei Häuser in Holland Enschede, Brüggersteeg Nr. 277 und 279 mit „Allem was wand-band-niet-nagelfest mit dem Haus verbunden ist“. Zusätzlich übernahmen Winters eine Grundschuld in Höhe von 4.200 Gulden und trugen die Kosten des genannten Tauschvertrages8.

Am 02.09.1938 wurde dann in einem Auseinandersetzungsvertrag zwischen den Herren Akkermann und Stevens festgelegt, dass das Gebäude und die Grundstücke in Marienhagen zum Alleineigentum von Herrn Stevens erklärt wurden.

Am 17.01.1949, also nach Krieg und Holocaust, beantragten Frau Herta Maier geb. Kratzenstein, Herr Julius Kratzenstein (nun Dr. Julius Josef Kratzenstein) u. Frau Hilde Meyer/Cohen geb. Kratzenstein die Rückerstattung des Hauses beim Landgericht Gießen – der Antrag wurde jedoch als unbegründet abgewiesen, da „keine Tatsachen vorliegen, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, dass der Tauschvertrag auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus nicht abgeschlossen wäre… und zudem ein angemessener Gegenwert bei den Enscheder Tauschgrundstücken vorliegt“.

Am 15.09.1950 heiratete Herr Stevens seine Frau Josefine geb. Winter9 und am 21.09.1950 übertrug Hr. Stevens in einem Schenkungsvertrag das Haus und die Grundstücke an seine in Gütertrennung lebende Ehefrau.

1981 erwarb der „Schullandheim-Verein Marienhagen des Gymnasiums Stadtmitte und des Reinhard und Max Mannesmann Gymnasiums Duisburg“ das Haus, 1997 ging es in Privatbesitz über und seit 2016 ist der jetzige stolze Eigentümer Herr Nick Albrecht, der es auch mit ermöglichte, diese Geschichte eines alten jüdischen Hauses zu schreiben.

Eine Haustafel, initiiert von dem Förderkreis „Synagoge in Vöhl e.V.“ und finanziert vom Landkreis Waldeck-Frankenberg, erinnert nun vor Ort an diese „Haus-Geschichte“.

Die feierliche Übergabe dieser Haustafel erfolgt am 23.03.2024 um 14 Uhr im Schulweg 8 in Marienhagen.

Dr. Knoche

  1. Zu Grunde gelegt werden hier im Folgenden vor allem die Unterlagen der Hertha Maier im Staatsarchiv Freiburg F196/2, die Grundbuchakte des königlichen Amtsgerichtes in Corbach zur Fam. Kratzenstein, „Die Arisierung des Vermögens der Frau Katzenstein“, der Verfasser, Marienhagen, 2021 und „Versteigert, verkauft, verwertet – Gegen das Vergessen, Die Liquidation jüdischen Eigentums – zur Erinnerung an die Deportation vor 80 Jahren“, der Verfasser, Marienhagen, 2022, „Drei starke Frauen“, der Verfasser, 2023; sowie Erzählungen/Berichte/Erinnerungen alter Marienhagener Bürger – zu denen sich der Verfasser nun auch schon langsam zählen muss.
  2. Geb. 1821-1896, verheiratet mit Karoline geb. Frankenthal, 1825-1911
  3. Selig bzw. Felix, geb. 1864-1919, hatte – wie bei Juden üblich – zwei Vornamen: einen eher bürgerlichen (Felix) und einen eher religiösen (Selig). Zum Erbe gehörten nicht nur Hof und Scheune mit Vieh /Gerätschaften, sondern auch die Grundgärten mit 92m², der Schmandberg mit 6.225 m², die Ketteläcker mit 29.235 m² und Garten im Schachtental mit 39 m². Es liegt hier eine Patrilinearität (lateinisch für „in der Linie des Vaters“) durch die direkte Übertragung von Besitz über die männliche Linie vom Vater an seinen Sohn vor. Zur Erinnerung: Aus dem „Code Civil" von Napoleon wurde erst bei Inkrafttreten des BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) am 1.1.1900 der entsprechende Passus, also das gleiche Recht von Sohn und Tochter am elterlichen Nachlass, mit aufgenommen.
  4. Jettchen ging gänzlich „leer“ aus, Regine sollte bei Heirat und Auszug zumindest 1.500 Mark in bar erhalten. Verwunderlich ist aber, dass Jettchen Moses geb. Kratzenstein, wohnhaft in Köln Friedrichstr. 20, erst am 07.01.1932 beim Amtsgericht in Korbach (und nicht innerhalb der Familie) anfragte, ob ein Testament der Eltern Josef Kratzenstein u. seiner Frau Karoline geb. Frankenthal vorliegt.
  5. Es erfolgte ein Schenkungsvertrag von Hedwig an Max – hier ist neben der Rolle der Frau als Eigentümerin auch schon damals die steuerliche Betrachtung interessant; siehe hierzu das Deutsche Reichserbschaftssteuergesetz von 1919.
  6. Der Wert der Immobilie wurde mit 7.000 Mark, für Vieh und Gerätschaften wurden 1.000 Mark angesetzt. Außerdem erhielt Hedwig 7.500 Mark in bar, sicherlich um die Geschwister auszahlen zu können – s.o. Weiterführende Informationen zur Familie Kratzenstein siehe auch Lebensläufe,Erläuterungen und Stammbäume von Vöhler Juden: synagoge-voehl.de
  7. Neben dem Nießbrauch für einen „gesicherten Lebensabend“ hatte Dina Anspruch auf Übernahme der Kosten für ärztliche und pharmazeutische Versorgung, Kleidung, Verköstigung, Heizung u. Beleuchtung, jährlich 75 kg Rindfleisch, 8 Zentner Kartoffeln, den 4. Teil von allem Gemüse, monatlich ½ Steige Eier, ½ Liter Öl, 1 Pfund Salz, täglich 1 Liter Milch.
  8. Der Wert des Hauses und des Inventars in Marienhagen beträgt umgerechnet in etwa 30.550 Euro; der Wert der beiden Häuser in Holland abzgl. der eingetragenen Grundschuld entspricht umgerechnet in etwa 810 Euro
  9. Frau Josefine Stevens (genannt Fine) geb. Winter (geb. am 30.04.1915) gehörte das Haus der Winters in Marienhagen, Hauptstr. 16 (In der Grund). Sie verkaufte es am 14.11.1960 an Fam. Zimmermann. Die Fam. Stevens lebte in den 1950er Jahren im Sternbuschweg 14, Duisburg-Neudorf, einem Haus, in dem die jüdische Familie Kasper gelebt hatte, die 1933 nach Amsterdam „gegangen“ ist, 1943 in Westerbork interniert wurde und 1943 nach Sobibor deportiert und dort ermordet wurde.