Aus dem Rathaus wird berichtet

1. Oktober 1874: Standesamt und Zivilehe im Kreisgebiet - Leben, lieben und sterben werden seit 150 Jahren staatlich dokumentiert

Von Thomas Schattner

Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck (1815 bis 1898) gilt gemeinhin als der Gründer des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 im französischen Versailles. Fortan tat er alles um „sein“ Reich zu schützen. Wer aus seiner Sicht diesem Reich gefährlich werden könnte, wurde von ihm hart und mit allen Mitteln während seiner Kanzlerschaft von 1871 bis 1890 bekämpft. Dies traf zum einen die Sozialdemokratie, die er von 1878 bis 1890 massiv bekämpfte, weil er der SPD Internationalität unterstellte und ihr Illoyalität bezüglich des Reiches attestierte. Bereits seit 1871 hatte Bismarck zum zweiten die katholische Kirche insgesamt und die katholische Zentrumspartei im Besonderen im Visier, ihnen attestierte er, dass sie „ultramontan“ orientiert seien, im Zweifel also im Papst „jenseits der Berge (Alpen)“ die höhere Autorität als im Deutschen Kaiser sehen würden. Daraus entwickelte sich der sogenannte Kulturkampf, der in den Jahren 1871 bis 1887 zwischen Bismarck und letztendlich den beiden großen Volkskirchen bestand.

Da Bismarck in der Einführung der Standesämter eine Möglichkeit sah, die Macht der Kirchen zu beschneiden bzw. zu brechen, setzte er seine diesbezüglichen Pläne kontinuierlich seit Beginn des Jahres 1874 um. Allerdings hatten schon die Abgeordneten der Frankfurter Paulskirchen-Verfassung von 1848 die Trennung von Staat und Kirche vorgesehen. Jahrhunderte war die Beurkundung des Personenstands die Aufgabe der Kirche. Diese Ära endete am 23. Januar 1874, nun verabschiedete der Preußische Landtag ein Gesetz zur Einführung der Zivilehe und die standesamtliche Führung der Personenstandsregister. Zwei Jahre später wurde im gesamten Deutschen Reich diese Neuerung eingeführt. Leben, lieben und sterben wurde ab diesem Zeitpunkt nun staatlich dokumentiert. Das „Ja“ oder das „Ja, ich will“ war nun nicht mehr nur in der Kirche möglich, es konnte sogar auf sie verzichtet werden. Anfänglich galten bürgerliche Heiraten aber noch als Sensation, die sogar Schaulustige anlockten.

Als Nebeneffekt wurden die standesamtlichen Aufzeichnungen der sich Ende des 19. Jahrhunderts rasant entwickelnden modernen Industriegesellschaft in den Bereichen Volkszählung und -registrierung, Steuererhebung und Wehrpflicht immer wichtiger und bedeutender.

Die Hauptstadt des Deutschen Reiches Berlin machte den Anfang bei der Einführung der Standesamtsregister. Zum 1. Oktober 1874 gab es dort bereits 13 Standesämter. Weitere Meilensteine der Gesetzgebung waren im Jahr 1920 die Öffnung der Standesämter für Standesbeamtinnen und im Jahr 1935 „die Verordnung über standesamtliche Hinweise“. Letztere ermöglichte den Informationsaustausch zwischen den Standesämtern, z.B. im Kontext von Testamentseröffnungen, diese führte aber auch zu zusätzlichen Einträgen auf den Geburtseinträgen beim Standesamt der Geburt, wenn der Todesort ein anderer war.

Wabern und alle anderen Orte im Kriegsgebiet, für die ein Standesamt vorgesehen war, waren dann zum dritten Quartal des Jahres 1874 ebenfalls bereits mit einem Standesamt ausgestattet. Dort wurden Erst- und Zweitregister (eine Art „Sicherungskopie“) geführt. Erster Standesbeamter wurde in Wabern ein Herr Ochs. Vermutlich wurde Lehrer Georg Karl Rudolf Ochs (Jahrgang 1843), der an Waberns Volksschule in der Fritzlarer Straße unterrichtete, aufgrund seiner Erfahrung mit bürokratischen Schriftwechseln und Abläufen, Waberns erster Standesbeamter. Sein Nachfolger wurde im Jahr 1901 höchstwahrscheinlich Heinrich Hose (1857 bis 1935), der im Jahr 1897/98 auch zum Bürgermeister ernannt wurde und diese beiden Ämter bis zum Jahr 1909 ausführte.

Im Jahr 1874 wurden in Wabern 19 Geburten, vier Eheschließungen und 18 Sterbefälle im ersten Jahr der standesamtlichen Aufzeichnungen festgehalten. Pünktlich zum Beginn der standesamtlichen Aufzeichnungen wurde am 1. Oktober 1874 in Uttershausen das erste Kind geboren, welches standesamtlich in Wabern erfasst wurde. Allerdings fand die Beurkundung erst fünf Tage später statt, man brauchte scheinbar noch etwas Gewöhnung an den neuen Verwaltungsakt. Der erste Todesfall wurde exakt am Todestag am 22. Oktober gemeldet, ein sieben Monate altes Kind war in Wabern verstorben. Und die erste standesamtliche Heirat fand am 17. Oktober 1874 in Wabern statt. Der aus Untergeis (Hersfeld-Rotenburg) stammende Lehrer Johann Adam Grebe (1821 bis 1877) heiratete in zweiter Ehe Christine Dorothea Sophie Rößler (1823 bis 1884) aus Harle.

Das Personenstandsarchiv Neustadt/Hessen

Die Waberner Nebenregister sind wie alle Register der Kreise und kreisfreien Städte Hessens zentral für das Bundesland im Personenstandsarchiv in Neustadt/Hessen archiviert, einer Außenstelle des Marburger Staatsarchivs. Dort stehen die Geburtsnebenregister, die vor mindestens 110 Jahren geschlossen, die Heiratsnebenregister, die vor mindestens 80 Jahren geschlossen wurden, und die Sterbenebenregister, die vor mindestens 30 Jahren geschlossen wurden, für genealogische und wissenschaftliche Recherchen zur Verfügung. Neustadt/Hessen hat sich deshalb seit der Gründung des Archivs im Jahr 2011 zum „Mekka“ der hessischen Familienforschung entwickelt.

Die Bestände des Personenstandsarchivs liegen derzeit bis zu den Stichjahren 1900 (Geburten), 1930 (Heiraten) und 1980 (Sterbefälle) digitalisiert vor und sind über „Arcinsys“ online einsehbar. Die Jahrgänge der Sterbenebenregister sind allerdings erst nach Ablauf von 60 Jahren frei zugänglich.

Kontakt:

Hessisches Landesarchiv - Personenstandsarchiv Hessen

Leipziger Str. 83, 35279 Neustadt (Hessen)

Telefon: 06692 20388-25

E-Mail: personenstandsarchiv@hla.hessen.de

Bei persönlichen Recherchen im Lesesaal des Hessischen Personenstandsarchivs ist eine Terminanmeldung erforderlich.

Quellenverzeichnis:

HStAM, Best. 920. Nr. 10893, 10895 und 10897