Die Künstlerin im Waberner Schlosspark, wo ihr Urgroßvater Julius Naschelsky im Jahr 1933 misshandelt und gefoltert wurde (Fotografie: Thomas Schattner)
Die amerikanische Fotokünstlerin beim Fotografien einer Hochwassermarke in Wabern, die an die Bombardierung der Edertalsperre am 17. Mai 1943 erinnert (Fotografie: Thomas Schattner)
Laura Cobb mit ihrer „Mamiya C330-Kamera“ vor dem Mittelhof bei Gensungen, auf dem der spätere Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 seine Kindheit verbrachte (Fotografie: Thomas Schattner)
Von Thomas Schattner
Am letzten Dienstag und Mittwoch war die 35-jährige amerikanische Foto-Künstlerin Laura Cobb in Begleitung von Thomas Schattner auf einer Foto-Tour im Kreisgebet unterwegs. Cobb, deren Urgroßvater Julius Naschelsky (1887 bis 1966) als Deutscher, jüdischen Glaubens, im Februar 1934 in die USA floh, war im letzten Jahr oft mit der Kamera auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte im Raum Gudensberg unterwegs. Ihre Vorfahren betrieben in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Gudensberg einen Fahrradhandel.
Nun suchte Cobb, die in Kansas lebt, einen neuen Zugang zur Vergangenheit ihrer Familie, in dem sie Orte im Kontext der nationalsozialistischen Zeit im Kreisgebiet anschaute. Cobb drückte es so aus: „Ich interessiere mich zwar für mein familiäres Erbe und die Erfahrungen meiner Vorfahren, aber ich weiß, dass sie Teil von etwas Größerem sind, einem Geflecht von Ereignissen, einem Kodex der Geschichte. Nichts existiert isoliert. Alles ist miteinander verbunden“.
Ganz wichtig war ihr dabei der Waberner Karlshof. In dem dort errichteten „wilden Konzentrationslager“, welches vom 30. Juni bis zum 1. Juli 1933 unter der Leitung lokaler SA-Mandatsträger bestand, wurde ihr Urgroßvater gedemütigt, misshandelt und geschlagen. Die Häftlinge, die in der ehemaligen Turnhalle übernachten mussten, wurden gezwungen, im Schlosspark zu exerzieren und zu singen. Im ehemaligen Schuhputzraum im Hauptgebäude wurden die Inhaftierten misshandelt, sie bekamen eine bestimmte Anzahl von Schlägen, auch mit Peitschen, die vorher nach einem „Verhör“ auf einem Zettel notiert wurden. Die meisten dieser Menschen litten noch Wochen später an den Folgen dieser „Aktion nationalsozialistische Pädagogik“. Es war für Cobb sehr emotional vor der Tür des Raumes zu stehen, hinter der ihr Urgroßvater vor 92 Jahren gefoltert worden war. Dazu Laura Cobb: „Aus der Sicherheit der Gegenwart heraus besuche ich Wabern, folge seinen Spuren und hinterfrage die Vergangenheit. Es ist seltsam, sich den Schmerz der in Wabern Inhaftierten vorzustellen, denn was ich heute gesehen habe, versucht mich glauben zu machen, dass solche Gräueltaten nie stattgefunden haben. So viele Geschichten sind vergessen worden, begraben unter Schmerz und Schuld“.
Anschließend begab sich die US-Fotokünstlerin u.a. auf die Spuren von Hitlers Weg, den er beim Besuch der großen Wehrmachtsparade am 18. September 1936 auf „Der Platte“ zwischen Udenborn, Uttershausen und Großenenglis in Zennern, Udenborn und auf dem Paradefeld zurückgelegt hatte. Neben Hitler verfolgten damals mindestens 50.000 Zuschauer die Darbietungen der Wehrmacht. Anschließend stand Cobb mit ihrer analogen Mittelformatkamera, einer Mamiya C330 und Stativ in Mitten des Paradefeldes, wo seinerzeit die Wehrmacht ihre modernsten leichteren Waffen präsentierte. „Heute ist es ein ruhiges Feld“, so Cobb, „aber einst standen Tausende dort, wo wir heute standen, und jubelten dem Militär, Hitler, dem Tod und der Vertreibung meiner Vorfahren und so vieler anderer zu. Wie soll ich das verstehen“?
Weitere Stationen von Cobbs Tour durch das Kreisgebiet waren u.a. die Walkemühle bei Adelshausen (Melsungen), wo im Jahr 1933 das zweite „wilde Konzentrationslager“ im heutigen Kreisgebiet errichtet wurde sowie der Mittelhof bei Gensungen, wo der spätere Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, Egbert Hayessen, seine Kindheit verbrachte.
Die Künstlerin bilanzierte ihre Eindrücke und Emotionen bereits am Ende des ersten Tages wie folgt: „Mit einem Wechsel von Sonne und Regen schien es, als würde das Wetter selbst meine Verwirrung widerspiegeln. Ich spürte, wie Regentropfen auf meine Jacke und meine Haut prasselten, auf das Dach des Autos schlugen, nur um dann der Sonne Platz zu machen und sich wieder in Regen zu verwandeln. Während wir gingen und fuhren, wies mich Thomas Schattner auf Hinweise auf die Vergangenheit hin, scheinbar harmlose Zeichen und Symbole, die ich ohne ihn übersehen hätte. […] Durch seine Einsichten kann auch ich einige der Hinweise sehen, die uns umgeben. Ich habe so viele Fragen ohne offensichtliche Antworten, aber Tage wie heute helfen mir, dem Verständnis näher zu kommen“. Denn Fotografieren ist für Cobb, die gebürtig aus Nebraska stammt, ein historisches Familienprojekt. „Die sowohl schwarz-weißen als farbigen Fotos, die ich heute gemacht habe, sind Teil eines Langzeitprojekts, an dem ich derzeit arbeite. Die Ausstellung in der alten Synagoge in Gudensberg war eine Zwischenpräsentation dieser Arbeit. Nach meiner Rückkehr in die USA werde ich dieses Projekt durch weitere Recherchen zu meiner Familiengeschichte und meinem Archiv fortsetzen. Ich werde auch damit beginnen, Porträts meiner Familie zu machen. Ich habe vor, im Frühjahr nach Deutschland zurückzukehren und diese Arbeit fortzusetzen“, so Laura Cobb.