Neben dem Ehepaar Valentin und Leni Weidemann ist Tochter Johanna Weidemann zusammen mit den beiden Saarländern M. Mörsdorf und J. Deckelnick aus Wehrden (Völklingen) auf dieser Fotografie abgebildet. Die Aufnahme entstand im Garten des Waberner Schulhauses (Fotografie: Archiv Familie Laabs).
Sterbenebenregistereintrag von Georg Becker aus Saarlautern in Wabern (HStAM, Best. 920, Nr. 8254)
Der nachgetragene Sterbenebenregistereintrag vom Tod von Johannes Fröde, der auf dem Hebeler Standesamt eingetragen wurde (HStAM, Best. 920, Nr. 3168)
- Vor 85 Jahren bildeten sich erste Grundzüge einer Kriegsgesellschaft in Wabern aus
Vor 85 Jahren herrschte ebenfalls Krieg in Europa. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Schon drei Tage später waren die ersten Auswirkungen direkt in Wabern zu konstatieren. Fremde Menschen mussten nun - auch privat - einquartiert werden. Die dörfliche Gesellschaftsstruktur des Zuckerrübenortes unterlag langsam aber sicher merklichen Veränderungsprozessen. Der Krieg hinterließ seine ersten Spuren in Wabern und den Dörfern ringsum. Bis zum 30. März 1945, dem Tag des Einmarsches der US-Truppen in Wabern, sollte es dauern, bis der Krieg zu Ende war. Doch die gesellschaftlichen Spuren, die er hinterließ, waren gewaltig und sind bis heute vorhanden.
Schon kurz nach Kriegsbeginn 1939 wurden die Bewohner des Deutschen Reiches, die an der Grenze zu Frankreich lebten, evakuiert. Die „Rote Zone“, ein linksrheinischer Grenzgürtel von rund 20 Kilometern Breite wurde von der Eifel bis zur Schweizer Grenze, in den ersten Kriegstagen „freigemacht“. Dazu kam die „Grüne Zone“, die noch einmal 30 Kilometer rechtsrheinisches Gebiet sichern sollte. Am 3. September 1939, dem Tag der französischen und britischen Kriegserklärung an das nationalsozialistische Deutschland, erreichte rund 300.000 Bewohner der Grenzgebiete der militärische Befehl zur „Freimachung ihrer Wohngebiete“. Die grandiose Durchmischung der sich herausbildenden Kriegsgesellschaft des Deutschen Reiches hatte damit begonnen. Die Betroffenen bekamen gedruckte Weisungen. Darin wurde ihnen erklärt, dass ihr Wohngebiet aufgrund der Kriegsgefahr und zum Schutz der Bevölkerung, sowie zur Sicherstellung der Beweglichkeit der Wehrmacht zu räumen sei. So kamen auch Bewohner des Saarlandes mit Sonderzügen der Reichsbahn in unsere Region und nach Wabern.
Am 18. September 1939 veröffentliche das Homberger Kreisblatt einen Aufruf von Gauleiter Karl Weinrich, in dem er alle Kurhessen aufforderte, „unseren“ Saarländern so gut als möglich zu helfen. Weiter schrieb er: „Es muss euch eine Ehre und Pflicht zugleich sein, sie ganz als die Euren zu betrachten und zu behandeln. Ihr Saarpfälzer selbst werdet euch bei uns wie zu Hause fühlen, manche bei uns entstandene Lücke ausfüllen, auf dem Lande Hand anlegen und hier genauso Eurer Arbeit nachgehen und Eure Pflicht tun wie in der Heimat“. Zwei Tage später war schon der Saal der Gastwirtschaft Möller in Homberg als Tagesraum für die Gäste von der Saar hergerichtet. Nicht nur ein Volksempfänger (Radiogerät im Nationalsozialismus) war vorhanden, sondern es lagen auch Zeitungen und Zeitschriften aus. Dazu wurde der Saal bei kaltem Wetter geheizt.
Dennoch mangelte es an vielen, denn aus ihrer Heimat hatten die Saarländer nur das Allernotwendigste mitgenommen. Lediglich ein Gepäckstück, reglementiert auf 15 Kilogramm, war zulässig gewesen.
Zahlen aus dem Kreis Melsungen machen das ganze Ausmaß der damaligen Evakuierungsaktion für die Region deutlich. 5.326 Saarländer hatte der Kreis aufgenommen, allein die Stadt Melsungen hatte für 400 Saarländer möblierte Wohnräume zu stellen.
Saarländer in Wabern
Durch die Auswertung von Standesamtsregistern im Hessischen Personenstandsarchiv in Neustadt und anderer Quellen konnten nun auch erstmals evakuierte Saarländer für Wabern und seine Ortsteile nachgewiesen werden. Schwerpunktmäßig kamen die Flüchtlinge aus dem Großraum Völklingen. Sie wurden verteilt im Ort einquartiert, man musste nun zusammenrücken. So wurden in Waberns alter Volksschule in der Fritzlarer Straße am 4. September 1939 die Herren M. Mörsdorf und J. Deckelnick aus Wehrden (Völklingen) im Saarland einquartiert. Waberns Hauptlehrer Valentin Weidemann sorgte zusammen mit seiner Familie bestens für sie.
Christian Orth, ein Pensionär aus Saarbrücken, Jahrgang 1872, lebte mit seiner Ehefrau Lina damals in Wabern in der Kasseler Straße Nummer 11 (ehemals Gemischtwaren und Lebensmittel Katharina Mardorf, heute Töpferei Kollmar). Christian Orth verstarb 67-jährig am 20. September 1939 in Wabern.
Anna Karrenbauer stammte aus Püttlingen an der Saar. Anna war Jahrgang 1876. Sie und ihr Ehemann Franz lebten in Wabern in der Forststraße Nummer 5 (heute Hof Ewald). Möglicherweise war die Evakuierung für sie genau wie für Christian Orth gesundheitlich zu anstrengend. Orth starb an Altersschwäche, Anna Karrenbauer verstarb 62-jährig am 6. Oktober 1939 an einer Herz- bzw. Kreislaufschwäche in Wabern.
Des Weiteren lässt sich Georg Becker, ein Rentner aus Saarlautern, Jahrgang 1867, für Wabern nachweisen. Zusammen mit seiner Ehefrau Katharina lebte er laut Sterbeurkunde im Altersheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in der Kasseler Straße Nummer 1 (ehemals Gaststätte „Zur Traube“). Er verstarb 73-jährig am 4. Januar 1940. Die Leiterin des NSV-Heims, Schwester Maria Schmidt, geborene Möller, zeigte den Tod auf dem Standesamt an.
Aber nicht nur ältere Menschen haben oft in besonderen Situationen gesundheitliche Probleme, sondern auch Kinder und Kleinkinder. Franz Rudolph Diederich, geboren am 28. Februar 1939 in Völklingen-Wehrden, verstarb am 22. Januar 1940 noch nicht einmal einjährig an einer Lungenentzündung in Uttershausen. Die Trauer muss damals bei Mutter Katharina und ihrem Bruder Johann in Uttershausen, sowie bei Vater Erwin, der in Hannover-Linden als Schmelzer arbeitete, sehr groß gewesen sein.
Und beim Standesamt in Hebel wurde im Oktober 1939 einer der wenigen Kriegstoten an der Westfront, an der zu Beginn des Krieges so gut wie keine Kampfhandlungen stattfanden, beurkundet. Der Kanonier Johannes Fröde, geboren am 3. Juli 1896 in Homberg-Mühlhausen, verstarb am 17. Oktober 1939 in St. Ingbert im Krankenhaus nach einem Unfall durch Rippenbrüche im rechten Rückenbereich. Der 43-Jährige Landwirt Fröde war als Mitglied der 9. Batterie des Artillerie-Regiments 152 zur Grenzsicherung mit seiner Einheit ins Saarland abkommandiert worden.
Nach Beendigung des Frankreichfeldzugs 1940 konnten die Bewohner der „Roten Zone“ wieder in ihre Heimat zurückkehren. Bis zum Sommer bzw. Herbst 1940 blieben deshalb sehr viele Saarländer hier in der Region. Gleichzeitig bezogen ab Mitte Oktober 1939 tausende Wehrmachtssoldaten nach dem siegreichen Feldzug gegen Polen ihr Winterquartier in Nordhessen. Diese Einheiten blieben bis zum Mai 1940, ehe sie auf dem Waberner Bahnhof verladen wurden, um nach Westen verlegt zu werden. Mit ihnen überfiel das Deutsche Reich am 10. Mai 1940 die Benelux-Länder und Frankreich. Damit waren die Grundzüge der Kriegsgesellschaft in Nordhessen wie anderswo bereits vorhanden. Fünf Jahre später hatte das Reich eine komplett andere, eine völlig durcheinander gewirbelte Gesellschaft durch den Krieg bekommen, in der nichts mehr wie zuvor war. Und doch bildete diese die Grundlage der Gesellschaft der späteren Bundesrepublik, unserer heutigen Gesellschaft.