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Ausgabe 50/2025
Aus dem Rathaus wird berichtet
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Aus dem Rathaus wird berichtet

Undatierte Fotografie von Benjamin Sauer (1871 bis 1948), er überlebte das Ghetto Theresienstadt und verstarb in Lausanne, in der Schweiz (Fotografie: Archiv Jean Ascher, Dänemark)

Undatierte Fotografie des zum Schulgebäude umgebauten Gehöftes des Viehhändlers Benjamin Sauer (Fotografie aus: 750 Jahre Falkenberg, 1250 bis 2000, Gudensberg-Gleichen 2000)

Passbild aus dem Reisepass von Erna Ascher (Sauer) aus dem Jahr 1938 (Archiv Wolf-Dieter Ascher, USA)

Major Wolf-Dieter Ascher, Ernas Sauers Sohn, als Navigator im Jahr 1967 bei der US-Armee (Fotografie: Archiv Yvonne Ascher, USA)

Wolf-Dieter Ascher im Jahr 2014 (Fotografie: Jean Ascher, Dänemark)

Von Thomas Schattner
Buchvorstellung

Der Autor legte im Jahr 2023 ein Buch über Margot Frenkel vor, in dem auch die Geschichte der jüdischen Familie Frenkel in Falkenberg einen thematischen Schwerpunkt bildete. Ein Jahr später folgte zusammen mit James Dannenberg aus den USA ein Buch über die jüdische Familie Dannenberg aus Falkenberg. Ebenfalls im Jahr 2024 erschien eine Publikation über die Familie Goldschmidt, die sowohl in Falkenberg als auch in Hebel ansässig war. Im Jahr 2025 folgten ein Buch über die Familien Heilbronn aus Falkenberg und Hebel, über die Hebeler Familie Vogel sowie die Rosenblatts und Wallachs aus Falkenberg und Hebel. Hinzu kam er Werk über die Lehrer an der jüdischen Schule in Falkenberg. Mit dieser Veröffentlichung über die Familien Levisohn, Rosenthal, Sauer und die Familien Wertheim erscheint nun ein achter und vorläufig letzter Band zur Geschichte der Synagogengemeinde Falkenberg-Hebel. Allein die Anzahl der Publikationen lässt Rückschlüsse auf die große Bedeutung der ehemaligen Synagogengemeinde Falkenberg-Hebel, auch und gerade für die jeweiligen Ortsgeschichten, zu. In diesem Band geht es um das Schicksal von fünf Familien im 20. Jahrhundert, die nur etliche Jahrzehnte bzw. einige Jahre vor Ort waren.

Lange taten sich Falkenberg und Hebel schwer mit ihrer jüdischen Vergangenheit. Erste Meilensteine der Aufarbeitung dieser fanden im Jahr 2000 statt, in dem beide Ortsjubiläen feiern konnten. 25 Jahre später ist es nun möglich, genauer auf die Biografien der ehemaligen Mitbewohner zu schauen und den Weg, der im Jahr 2000 begonnen wurde, fortzusetzen. In diesem Jahr wurde auf dem ehemaligen Gelände der Synagoge in Falkenberg ein Gedenkstein im Kontext der Jahrfeier „750 Jahre Falkenberg“ eingeweiht, dazu wurde das Hebeler Kriegerdenkmal auf dem Friedhof um die damals bekannten Namen der jüdischen Opfer des Ortes im Rahmen der urkundlichen Ersterwähnung des Ortes vor damals 1225 Jahren erweitert. Die historische Grundlage damals waren erste Erkenntnisse des Autors zur jüdischen Geschichte beider Orte.

Nach rund 30 Jahren sind viele weitere Erkenntnisse hinzugekommen, das Wissen um die ehemaligen Nachbarn ist viel differenzierter, so dass sich nun andere Formen des Erinnerns möglich sind und anbieten. Neben den Publikationen fand Juni 2025 erstmals auch eine Verlegung von Stolpersteinen in Falkenberg statt. Denn beide Orte können stolz auf ihre jüdische Vergangenheit sein und dies auch zeigen.

Dies wird u.a. an der Biografie von Wolf-Dieter Ascher deutlich, dem Sohn von Erna Sauer (1901 bis 1989) aus Falkenberg. Erna heiratete am 7. Juni 1927 den Hamburger Schiffsmakler Walter Ascher (geboren am 2. April 1898 in Altona) in Hebel. In Hamburg, wo die Familie lebte, wurde dann am 29. November 1928 Sohn Wolf-Dieter Ascher geboren. Von dort wanderte Erna mit ihrem Mann und ihrem Sohn am 5. November 1938 nach Shanghai aus, nachdem der Firmenbesitz in der Sprache der Zeit „arisiert“ worden war.

Sohn Wolf-Dieter schrieb im Jahr 1998 in seinen Shanghai-Memoiren über den Abschied von Hamburg und die Reise nach Genua, der ersten Station der Flucht: „Meiner Mutter liefen die Tränen über das Gesicht, als sie sah, wie die ´S.S.´ Sauerland vom Hafenbecken ablegte. Es sollte ihr letzter Blick auf Hamburg sein, eine Stadt, die sie als ihre Heimat betrachtete, in der ihr einziges Kind geboren wurde, in der alle ihre Freunde und ihre Familie Widerstand leisteten und in der ihr Ehemann seinen Lebensunterhalt in genau den Gewässern verdiente, welche die ´Sauerland´ jetzt aufgewühlt hatte. Es war der 5. November 1938, und in drei Wochen würde ich zehn Jahre alt werden, und ich würde meinen Geburtstag auf hoher See feiern. Es war eine Zeit, in der ich aufgeregt war und nicht weinen musste. Erst viele Jahre später verstand ich zum Teil, was eine solch einschneidende Veränderung für meine Eltern bedeutet hatte. Nun ging es weiter nach Genua, Italien, mit Fracht und etwa einem Dutzend Passagieren. Die Reise zu unserem endgültigen Ziel, Shanghai, China, würde sieben Wochen dauern. […] Mein Vater hatte großen Mut bewiesen, als er alles aufgab und in einem fremden Land, das so weit weg war, noch einmal ganz von vorne anfing. […]

Meine Eltern waren sich des Antisemitismus in Hitlers Deutschland sicherlich schon seit Jahren bewusst, aber ich war erst neun Jahre alt und war abgeschirmt und wusste nicht, was um mich herum geschah. Ich erinnere mich nur an Schilder auf Parkbänken, auf denen stand: ´Juden nicht erlaubt!´

Am 10. November 1938 lag das Schiff in Genua, Italien, vor Anker, als uns die Nachricht erreichte, dass in ganz Deutschland die ´Reichspogromnacht´, die Nacht der Glasscherben, stattgefunden hatte. Meine Eltern hatten große Angst, dass man uns wegen der engen politischen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland vom Schiff holen und nach Deutschland zurückschicken würde. Aber der Kapitän der ´Sauerland war ein rechtschaffener Deutscher, und er erklärte meinen Eltern und sicher auch anderen an Bord, dass, sobald er deutsche Gewässer verlassen hatte, die deutschen Gesetze nicht mehr gälten, sondern das internationale Recht; außerdem würde niemand irgendjemanden vom Schiff holen“!

Die Familie blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Pazifik in Shanghai. Dann kam die Frage auf, wohin man nun gehe. Dazu noch einmal Sohn Wolf-Dieter: „Ich bin mir sicher, dass meine Eltern daran dachten, nach Deutschland zurückzukehren, aber die Ereignisse dort verhinderten, dass sie dies ernsthaft in die Tat umsetzten. […] So sollte es Amerika sein.

Meine Mutter hatte Verwandte in der Bucht von San Francisco (die Felsenthals), die ein Affidavit (Bürgschaft) abgaben, ein Dokument, mit dem sie nachzuweisen versuchten, dass sie über ein ausreichendes Einkommen verfügten, damit wir, falls wir in die Vereinigten Staaten einreisen durften, dem Land nicht zur Last fallen würden“

Am 4. März 1948 erreichte die Familie mit der „SS General Gordon“ die Vereinigten Staaten. Mitte der 1950er Jahre lebte Erna Ascher in Oakland, Kalifornien, von wo aus sie sich bemühte, Wiedergutmachungsleistungen zu bekommen.Seit dem September 1953 war Erna US-Bürgerin. Näheres über das Leben der Familie in den USA konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Wir wissen nur, dass Wolf-Dieter sofort im Jahr 1948 in der US-Air Force diente. Zuvor war er schon in Shanghai für die US-Truppen tätig gewesen.

Wolf-Dieter war ein hoch dekorierter US-Veteran, der von 1948 bis 1972 in der US Air Force diente und in dieser Zeit im Vietnam-Krieg als Navigator eingesetzt wurde. Im September 1968 befand sich der Arbeitsplatz von Wolf-Dieter in einer Boeing E-6 B, auch „Looking Glass“ genannt. „Looking Glass“ bezeichnet ein Flugzeug vom Typ Boeing E-6 B (auch E-6 B Mercury genannt), das als fliegender Befehlsstand fungiert, um im Kriegsfall, wenn aus dem Kalten Krieg ein heißer geworden wäre, den Einsatz sämtlicher Kernwaffenträger (U-Boote, Bomber und landgestützte Raketen) zu leiten. Er schied im Rang eines Oberstleutnants aus der Armee aus.

Am 12. August 1968 besuchte Wolf-Dieter Ascher im Rahmen einer Deutschlandreise zusammen mit anderen Luftkadetten auch Falkenberg.

Erna Ascher (Sauer) verstarb am 28. Oktober 1989 in Ventura. Sie wurde auf dem „Home of Eternity Cemetery“ in Oakland, Kalifornien, neben ihrem Ehemann beigesetzt. Walter war bereits am 23. Oktober 1970 verstorben. Sohn Wolf-Dieter starb im Januar 2025 mit über 90 Jahren. Er war mit Raquel Szantal, geboren am 1. März 1939 in Bogota (Kolumbien), in erster Ehe verheiratet.

Das 334 Seiten starke Buch von Thomas Schattner „Die Falkenberger Familien Levisohn, Rosenthal, Sauer und die beiden Familien Wertheim: Fünf jüdische Familienskizzen aus dem 19. und 20. Jahrhundert“ ist unter der ISBN13: 979-8275039863 erschienen.