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Ausgabe 9/2024
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Ein Dorfschullehrer im Ersten Weltkrieg: Valentin Weidemann Von Thomas Schattner

Portrait von Valentin Weidemann im Jahr 1916 in Cambrai, Nordfrankreich

Das Lazarett vor dem Überqueren der Pionier-Brücke über die Narev bei Zamsky im östlichen Polen im Jahr 1915

Feldlazarett 3. In Brieulles vor Verdun, Nordfrankreich

Schlafsalon an der Feldküche, 1915, vorne links Valentin Weidemann

Valentin Weidemann, Jahrgang 1886, war seit dem 1. Juli 1914 Lehrer von Wabern. Er war bei Kriegsbeginn 28 Jahre alt und verheiratet. Seine Ehefrau war hochschwanger, am 6. August 1914 erfolgte die Geburt der ersten Tochter. Am 1. August 1914 hatte das Deutsche Kaiserreich dem russischen Zarenreich den Krieg. Das traf auch Waberns Lehrer ganz persönlich, der später schrieb: „Am 3. Mobilmachungstage hatte ich mich nach meiner Kriegsorder im Aktienpark zu Kassel zu melden. - Ich wurde Schreiber-Uffz. Im Feldlazarett 3 des XI. A[rmee] K[orps], später Feldlazarett 103 der 38. Infanterie-Division. In dieser Formation habe ich den Weltkrieg 1914 bis 18 mitgemacht. Den Krieg lernte ich somit nach seiner schrecklichsten Seite hin kennen, aber der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an die Kriegsschrecken“.

Valentin Weidemanns Fotografien, mehr als 220 Aufnahmen, zeigen einen Krieg hinter der Front aus der Perspektive eines Schreibers in einem Lazarett, der das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg dokumentiert. Deshalb findet man in diesem fotografischen Nachlass keine Aufnahmen von Kampfhandlungen und auch keine von der Front. Stattdessen zeigen diese Bilder das Leben im Lazarett, sowohl den soldatischen Alltag als auch den Alltag bei der Pflege der Verwundeten. Mit den Transporten beginnend, über ihre Schlafsäle und Operationen bis hin zu Nahaufnahmen von Verwundungen. Mit Letzterem geht Weidemann fotografisch allerdings sehr pietät- und respektvoll um.

Der Betrachter gewinnt Einblicke in das Sanitätswesen des deutschen Heeres. Dabei zeigt sich ein erstaunlicher Dualismus. Einerseits bewegt sich Weidemanns Einheit ausschließlich zu Fuß und zu Pferd, selbst sehr lange Märsche werden so zurückgelegt. Man lebt und arbeitet sowohl in Zelten als auch in requirierten Gebäuden, so werden im Osten mehrfach Schulen zu Lazaretten umfunktioniert. Andererseits werden die Verwundeten mit Eisenbahnzügen und in Autos transportiert. So offenbart sich eine gewisse logistische Leistung, die aber wohl nur im Bewegungskrieg an der Ostfront mit einer wesentlich geringeren Anzahl an Verwundeten im Gegensatz zur Westfront funktioniert hat.

Die Mannschaften hatten hier im Osten öfter auch Phasen von Freizeit, so taucht bei einer Fotografie sogar der Begriff Langeweile in der Bildunterschrift auf. Das war an der Westfront

allerdings ganz anders, dort hatte Weidemann selbst kaum noch Zeit zu fotografieren bzw. fotografieren zu lassen.

Deshalb ist die Verteilung der Fotografien bei den Einsatzgebieten Weidemanns sehr unterschiedlich. Die große Mehrheit der Bilder stammt von der Ostfront. Bilder von der Westfront sind dagegen deutlich weniger in Weidemanns Album enthalten. Zwar gibt es noch drei größere Themenblöcke, den ersten um das Weihnachtsfest 1915 in Schloss Faillonel (Nordfrankreich), dazu kommen im zweiten Bereich Fotografien aus dem Januar 1916. Der dritte Schwerpunkt berichtet vom Einsatz vor Verdun, wo Bilder den Aufbau und Betrieb des Zeltlazaretts dokumentieren. Danach bricht die fotografische Überlieferung fast komplett ab. Bilder aus der zweiten Jahreshälfte 1916 und der folgenden Jahre sind kaum noch vorhanden.

Über die Gründe können nur Vermutungen angestellt werden. Sicher ist aber, dass Weidemann krank wurde und womöglich länger nicht in der Lage war, seinen Dienstverpflichtungen nachzukommen. Das legt zumindest die drittletzte Fotografie des Albums dem Betrachter nah. Details darüber sind unbekannt.

Die Tatsache, dass der Erste Weltkrieg der erste hoch technisierte Krieg mit neuen Waffensystemen, neuen Kampfräumen und -taktiken etc. war, spiegelt sich bei Weidemann nur ganz am Rande wider. Eine Fotografie zeigt den Beschuss eines russischen Flugzeugs, andere deutsche Infanteriestellungen und wieder andere zerstörte russische Munitionstransporte. Das sind alles Motive der Ostfront, wo in Teilen noch ein klassischer Bewegungskrieg im Gegensatz zur Westfront stattfand. Lediglich eine Fotografie zeigt einen zerstörten französischen Panzer.

Wenn die enorme Zerstörungskraft der modernen damaligen Waffen im Album auftaucht, dann in Form von zerstörten Brücken wie bei Grodno im heutigen Weißrussland.

Umgekehrt nahm Weidemann gerade in Polen auch fotografisch Anteil an der Zivilbevölkerung, ihres Alltagslebens, ihren Bräuchen etc. Schwerpunktmäßig hielt er sich im Raum Lodz, Warschau, Lubmin und in der Breslauer Gegend auf, von dort ging es in das heutige Weißrussland. Wo auch immer er war, versuchte er am Alltag der Menschen, soweit das als Besatzungssoldat und als Teil einer Invasionsarmee möglich ist, teilzunehmen.

Das ändert sich in Nordfrankreich und im belgischen Flandern grundlegend. Die Fotografien, die an der Westfront entstanden sind, zeigen kaum Alltagsszenen. Hier dominieren ausschließlich „militärische“ Aufnahmen des Lazaretts, dienstfreie Zeiten werden kaum noch thematisiert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die z.B. Kirchen zeigen.

Weidemann erlebte den Krieg im heutigen Polen und in Weißrussland, in Frankreich und in Belgien. Die Ausdehnung zwischen Antwerpen im Westen und Grodno im Osten betrug mehr als 1.600 Kilometer. Für einen Dorfschullehrer im Jahr 1914 war das eine Weltreise. Ob ihm dabei aber klar war, dass er Bestandteil einer Invasionsarmee war, die z.B. Belgien ohne Kriegserklärung überfallen hat, ist schwer zu sagen. Allerdings gibt es in seiner „Weihnachtsgeschichte“ aus dem Jahr 1914 einzelne Passagen, die darauf hindeuten. Aufschluss darüber könnten wahrscheinlich nur seine Kriegstagebücher, die Weidemann nach eigenen Worten geführt hat, geben. Vielleicht werden auch sie eines Tages ausgewertet und publiziert werden können.

Weidemann wurde im Oktober 1953 nach 37 Dienstjahren pensioniert. Er verstarb nach einem erfüllten Leben als Lehrer und Chorleiter im Juli 1971 in Felsberg.