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Werratal Bote Mitteilungsblatt der VG Hainich-Werratal und Stadt Treffurt
Ausgabe 9/2023
Amt Creuzburg
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Unrecht und Gewalt in Creuzburg

Papa, hol mich hier raus!

Mit diesen flehenden Worten wendet sich der 15-jährige Karl-Heinz Jeziorski an seinen Vater. Er kann es ihm nicht direkt sagen. Die Nachricht schreibt er auf sein Taschentuch. Über den Wäschetausch erreicht es die Familie. Sein Vater kann nichts für ihn tun. Das Taschentuch wird zum Erinnerungsstück. 77 Jahre lang wird es von der jüngsten Schwester Sigrid (heute 82 Jahre alt) liebevoll aufbewahrt. Noch heute berührt es sie sehr.

Was war geschehen?

Eine heute 90-jährige Creuzburgerin erinnert sich noch gut an die unruhige Nacht zum 14. Februar 1946. Autos fahren vor in der Klosterstraße, Schreie, dramatische Szenen spielen sich ab. 11 Jungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren werden vom sowjetischen Geheimdienst GPU gewaltsam aus den Wohnungen geholt und abtransportiert. Ziel ist das Eisenacher Amtsgericht am Theaterplatz, Sitz des SMT (Sowjetisches Militärtribunal). Dort werden die Unschuldigen im Keller eingesperrt, mit Zeugenaussagen konfrontiert, gefoltert.

Die Anklagepunkte: Gründung einer Werwolf Organisation, antisowjetische Propaganda und Waffenbesitz. Die Verurteilung erfolgt nach fast 5 Monaten Quälerei durch den GPU.

Die Strafen für die zu Unrecht inhaftierten Jugendlichen: 20 Jahre Zwangsarbeit. Für 2 als Anführer Bezichtigte werden 25 Jahre festgelegt.

Die Angehörigen sind fassungslos und abgeschnitten von Informationen über ihre Jungen. Hatten sie nicht schon genug Leid mit der Zerstörung von Creuzburg 1945 erlitten? Nun fast ein Jahr später diese dramatischen Ereignisse. Wer hatte die Namen der Jungen ausgewählt und aufgeschrieben? Wer übergab die Liste dem GPU? Warum geschah das gerade in Creuzburg? Warum blieben andere Orte, wie z.B. Mihla verschont? Fragen die unbeantwortet bleiben werden.

Der damalige Bürgermeister Max Deubner bedauerte die Vorgänge bis zu seinem Lebensende. Betroffene Mütter beklagten sich immer wieder bitter bei ihm. Auch für ihn ein lebensbegleitendes Trauma.

Die Namen der inhaftierten Jugendlichen:

Karl-Heinz Jeziorski (*1930), Jochen Baum (*1930), Franz Ebenau (*1930), Fred Grey (*1929), Günter Heß (*1929), Rolf Hohmann (*1929), Hermann Küfner (*1928), Horst Reichhardt (*1930), Horst Rüger (*1929), Norbert Schwanz (*1929), Gerd Zellmann (*1930)

Wie ist das damalige Geschehen in Creuzburg einzuordnen?

Internierungslager wurden 1945 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands errichtet. Sie waren Teil der von den Alliierten beschlossenen „Sühnemaßnahmen“, die schon vor Kriegsende 1943 gemeinsam beschlossen wurden. Verantwortliche an faschistischen Gräueltaten sollten bestraft und einer demokratischen Entwicklung der Weg geebnet werden. In einer Direktive vom 12. Oktober 1946 wurden weit gefasste Kategorien für die zu Bestrafenden festgelegt. Eingeschlossen waren auch Menschen, die keine bestimmten Verbrechen begangen hatten, aber den Alliierten verdächtig erschienen. So kam es, dass viele unschuldige Deutsche inhaftiert wurden und ums Leben kamen.

In der sowjetischen Besatzungszone gab es wohl 11 Internierungslager. Die genauen Zahlen der Inhaftierten und Verstorbenen sind nicht bekannt.

Was war die Organisation „Werwolf“?

Der “ Werwolf“ wurde im September 1944 vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler gegründet. Die Alliierten hatten die Grenzen in Ost und West bereits erreicht. Die Spezialeinheiten der Werwölfe sollten Sabotage in den besetzten deutschen Gebieten leisten. Eine Zusammenarbeit der deutschen Bevölkerung mit den Besatzern verhindern. Die Alliierten schritten konsequent und mit Härte ein, wenn sich Verdachtsfälle ergaben.

Der weitere Leidensweg der Jugendlichen

Gefesselt und überführt nach Weimar Amtsgericht SMT, weiter nach Torgau, ehemaliges Wehrmachtsgefängnis “Fort Zinna“- SMT. Über 4 Jahre werden in Bautzen, “ Gelbes Haus“-SMT oder auch „Gelbes Elend“ genannt, verbracht.

Im Februar 1947 werden Horst Reichhardt und Horst Rüger nach Mittel-Sibirien verschleppt. Hermann Küfner, der älteste, stirbt vor 1951 in der Haftanstalt Bautzen.

Als sich die Häftlinge für bessere Haftbedingungen einsetzen, kommt es zum „Spießrutenlauf“. Mit Knüppeln wird auf die Häftlinge eingeschlagen.

Januar 1950: Die ersten 3 Creuzburger kehren zurück. März 1951: Norbert Schwanz und Karl-Heinz Jeziorski kommen schwer erkrankt in Creuzburg an. 1953: kehren Horst Rüger und Horst Reichhardt aus Sibirien zurück.1955: Die letzten 3 Creuzburger werden entlassen.

Verschwiegenheitserklärung

Alle Heimkehrer müssen eine Erklärung zur Verschwiegenheit unterzeichnen. Sie dürfen über das Erlebte nicht sprechen und werden von der Stasi überwacht. Außerdem sind sie Anfeindungen von Mitbürgern ausgesetzt. Erst nach der Wende dürfen sie sich mitteilen und werden rehabilitiert.

2001 - Anbringung einer Gedenktafel

Schüler der damaligen Creuzburger Regelschule waren angerührt von den dramatischen Schilderungen der ehemaligen Häftlinge. Sie hatten sich auch mit der Stalinzeit beschäftigt und regten die Anbringung einer Gedenktafel am Rathaus an. 2001 wurde sie eingeweiht. Seitdem findet am 14. Februar hier eine kleine Gedenkfeier statt. Am 7. März 2018 verstarb der letzte zu Unrecht Inhaftierte Creuzburger, Norbert Schwanz.

Das Taschentuch...

Karl-Heinz Jeziorski stirbt 1962 kurz vor seinem 32. Geburtstag an den Folgen der Haft. Sein Freund Günter Weißhaar steht ihm in den letzten Stunden bei. Ihm vertraut er die leidvollen Haftdetails an, über die zu dieser Zeit noch nicht gesprochen werden darf.

1962 veröffentlichte auch Alexander Solschenizyn seinen “Enthüllungs-Thriller“- “Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Unverblümt beschreibt er darin das unmenschliche stalinistische Lagersystem, bekommt 1970 dafür den Nobelpreis, wird 1974 ausgewiesen. Die betroffenen Creuzburger hätten sich wohl darin wiederfinden können.

Die Gegenwart...

Wer möchte gerne von Gewalt und Willkür lesen oder hören? Wer möchte genau wissen, was sich in ukrainischen und russischen Schützengräben und Gefangenenlagern abspielt? Wer möchte mit traumatischen Kriegsfolgen konfrontiert werden, die sich durch Generationen ziehen?...“Hol mich hier raus!“... so der Hilferuf auf dem Taschentuch.

Eine dringliche Aufforderung an die politisch Verantwortlichen, eskalierte Konflikte zu befrieden und Menschenleben zu schützen.

Es grüßt Sie Christina Möckel aus Creuzburg.

Gerne können Sie mir Ihre Meinungen und Ergänzungen

telefonisch oder per Mail mitteilen.

Tel. 036926 99207 E-Mail: krem.moeckel@t-online.de

Quellen:

Das Werraland, 2018, S.25-27, Neues Deutschland vom 24./25. März 1990, S.13, Artikel von Dr. Wilfriede Otto mit dem Titel: Auch Unschuldige wurden verhaftet und verschleppt

Das Quellenmaterial stellte mir Frau Sigrid Reichhard zur Verfügung. Herzlichen Dank dafür.