Zeitzeuge Klaus Meier berichtet über den Volksaufstand in Mühlhausen
Rede von Dr. Christian Stöber
Nach der Veranstaltung gab es reichlich Gelegenheit zum Gedankenaustausch. Oberbürgermeister Dr. Johannes Bruns von der Stadt Mühlhausen im Gespräch mit Bürgermeister Andreas Fernkorn
Sonntag, den 18. Juni 2023 ab 15.00 Uhr in der Hessenhalle der Gedenkstätte Grenzmuseum Schifflersgrund
Die Gedenkveranstaltung im Grenzmuseum Schifflersgrund stand ganz im Zeichen der Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953. Das mutige Aufbegehren für demokratische Selbstbestimmung vor 70 Jahren ist ein Schlüsseldatum der deutschen und europäischen Freiheitsgeschichte.
Neben dem Hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein und Bernhard Stengele, dem Thüringer Minister für Umwelt, Energie und Naturschutz sprach Herr Klaus Meier aus Mühlhausen als Zeitzeuge über den Protest in Mühlhausen, den er seinerzeit als Schüler erlebte. Der Vereinsvorsitzende Wolfgang Ruske eröffnete und schloss die Veranstaltung. Für eine würdevolle und musikalische Umrahmung sorgte das Landespolizeiorchester Hessen.
Der Gedenkstättenleiter Dr. Christian Stöber hielt eine Rede anlässlich des 70. Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR:
„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Rhein,
sehr geehrter Herr Minister Stengele,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,
am 17. Juni 1953 lehnte sich die Bevölkerung der DDR bei Demonstrationen und Streiks gegen die SED-Diktatur auf. Rund eine Millionen Menschen in über 700 Orten gingen auf die Straße. Mit militärischer Gewalt und sowjetischer Hilfe wurden die Proteste niedergeschlagen. Und die Ereignisse sorgten für ein Trauma bei der überraschten und überrumpelten Staatsmacht, deren existentielle Abhängigkeit von der Sowjetunion deutlich wurde und seither alles daran setzte, auf den nächsten „Tag X“ besser vorbereitet zu sein; für ein Trauma bei der ostdeutschen Bevölkerung, deren Aufbegehren für eine demokratische Selbstbestimmung gewaltsam unterdrückt wurde; und für ein Trauma beim ohnmächtigen Westen.
Doch was hat das mit dem Schifflersgrund zu tun? Warum eine Gedenkveranstaltung im Grenzmuseum? Gibt es dabei überhaupt eine besondere Verbindung vom 17. Juni zu diesem Ort und dieser Einrichtung?
Vorweg: die Antwort lautet ja, es gibt sogar eine besondere Beziehung. Ich möchte Ihnen gerne erklären, warum – weil es mehrere Erzählstränge dafür gibt und die Antwort auch erklärungsbedürftig erscheint.
Zugespitzt könnte man ja erst mal feststellen, dass hier – in Asbach, Sickenberg, Wahlhausen und Umgebung – keine Demonstrationen am 17. Juni stattgefunden haben oder zumindest nicht überliefert sind. Überhaupt verliefen die Tage um den 17. Juni im Eichsfeld relativ ruhig. Es gab zwar einzelne Protestaktionen. Symbolisch wurden so etwa Bildnisse von Grotewohl, Pieck und Ulbricht abgerissen, zur Wand hin umgedreht oder beschädigt. Es gab wohl auch einzelne Drohungen und Übergriffe auf Vertreter von Staat und SED. Und man befürchtete auch, dass die eichsfeldischen Bergarbeiter, die im mansfeldischen Streikgebiet arbeiteten, bei ihrer Rückkehr den Protest in die Region tragen würden, weshalb man für den Heimattransport einen Sonderzug organisierte und diesen besonders überwachte. Doch blieb es um den 17. Juni 1953 insgesamt im Eichsfeld – wenn man auch den Vergleich mit anderen ländlichen Regionen in der DDR zieht – doch relativ ruhig.
Dass heißt jedoch nicht, dass es im Eichsfeld in dieser Zeit keine Form von Widerstand gegen die SED-Diktatur und auch keine Repression und Unterdrückung gegeben hat. Im Gegenteil! Wir müssen uns in diese Zeit zurückversetzen. Das katholische Eichsfeld war der kommunistischen Staatspartei ein Dorn im Auge. Die CDU, die bei den einzig halbwegs freien Wahlen 1946 hier in der Region als katholische Milieupartei das beste Ergebnis in der ganzen SBZ eingefahren hat und demzufolge zentrale Schlüsselpositionen besetzte, erlitt erhebliche Benachteiligungen und Repressionen und wurde bis zur Mitte der 1950er zur Blockpartei degradiert. Es gab einen Personalaustausch und politischen Druck auf Bürgermeister aber auch etwa auf Lehrer. Die Religiosität der Bevölkerung und die katholische Kulturhoheit, sprich Volkskirchlichkeit sollte gebrochen werden. Die Bauern sollten im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft den LPGs beitreten, wogegen man sich aber gerade hier im Eichsfeld besonders vehement verweigerte. Zudem war das Eichsfeld eine Grenzregion. Viel mehr noch: Teile des Eichsfeldes lagen im Westen. Man hatte hier im Grenzgebiet in den 1950er Jahren im Übrigen auch einen besseren Empfang westlicher Rundfunksender. Insgesamt eine aus der Sicht der SED vielschichtige Problemlage, die das Eichsfeld zu einem politischen Ausnahmegebiet in der DDR machte und 1959 schließlich zum sogenannten „Eichsfeldplan“ führte – einem Programm, das einerseits die Industrialisierung, andererseits aber auch die Indoktrinierung der Region vorsah. Kurzum: also hier und der Umgebung relativ ruhige Tage um den 17. Juni 1953, ansonsten standen aber auch hier die frühen 50er Jahre ganz im Zeichen der Errichtung der SED-Diktatur.
Quasi nur wenige Meter entfernt in Hessen und in der Bundesrepublik wurde der 17. Juni bereits im August 1953 zum Tag der Deutschen Einheit, also zu einem Nationalfeiertag erhoben. In den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten nahm dieser Tag an der innerdeutschen Grenze eine besondere Rolle ein, auch hier zwischen Hessen und Thüringen, Eichsfeld und Werratal. Die Grenze avancierte in der Bundesrepublik zu einem beliebten Ausflugsziel. Schätzungsweise eine Millionen Bundesbürger besuchten die Grenze jährlich als Sehenswürdigkeit aus den unterschiedlichsten Gründen, vor allem in den Sommermonaten und an bestimmten Feiertagen wie dem 17. Juni. Schon damals gab es staatlich geförderte Exkursionsangebote zur „Zonengrenze “. Unweit von hier wanderten etwa von der Jugendburg Ludwigstein bei Witzenhausen seit den 1950er Jahren regelmäßig Jugendgruppen an die Grenze. Auch Bad Sooden-Allendorf war eine feste Adresse beim Grenztourismus.
Seit 1982 fanden dann hier – in einer Luftentfernung von rund 300 Metern – in der Straßenkurve von und nach Bad Sooden-Allendorf mit Blick auf den Schifflersgrund sogar jährliche Gedenkveranstaltungen am 17. Juni statt. Der Hintergrund dafür dürfte den meisten von Ihnen bekannt sein: am 29. März 1982 versuchte hier im Grenzabschnitt der 34- jährige Eichsfelder Heinz-Josef Große aus der DDR zu flüchten. Er konnte mit Hilfe eines Radladers den Grenzzaun überwinden, verstarb nach Schüssen der DDR-Grenzsoldaten jedoch nur wenige Meter bzw. wenige Sekunden von der Grenze entfernt – alles unter den Augen von drei westdeutschen Zollmitarbeitern, die ohnmächtig zusehen mussten.
Während der Vorfall in der DDR öffentlich tabuisiert wurde, berichteten die Medien in der Bundesrepublik landesweit darüber. Zu dem ergriff die CDU im Werra-Meißner die Initiative, auf hessischer Seite eine Mahnstätte in der unmittelbaren Nähe des Todesortes zu errichten. Dazu wurden unter anderem zwei Kreuze aufgestellt, eines zum Gedenken an Heinz-Josef Große, das zweite für alle Opfer der deutschen Teilung. Die Einweihung erfolgte wenige Wochen später am 17. Juni 1982 vor knapp 1000 Menschen im Beisein des damaligen CDU- Generalsekretärs Heiner Geißler. Immerhin befand sich seine Partei seinerzeit sowohl in Hessen als auch im Bund in der Opposition, sodass die Einweihungsveranstaltung auch politisch genutzt wurde. Doch wurde damit eine bis heute reichende Gedenktradition am 17. Juni im Schifflersgrund begründet.
Von Anfang an rückten diese Gedenkveranstaltungen in das Visier der DDR-Staatssicherheit, die das Geschehen von der gegenüberliegenden Seite aufmerksam verfolgte und penibel dokumentierte. Der Bericht der Stasi über die Veranstaltung zur Einweihung der Mahnstätte am Schifflersgrund am 17. Juni 1982 umfasst 24 Seiten mit zahlreichen Fotos, Wortprotokollen und einer Übersichtskarte. Darin ist von einer „Hetzveranstaltung der CDU“ die Rede.
In den folgenden Jahren erreichte die Mahnstätte einen überregionalen Bekanntheitsgrad, auch bei Ausflüglern und Touristen. Insbesondere an Feiertagen, Wochenenden und am 17. Juni suchte man die Straßenschneise in der Kurve nach Bad Sooden-Allendorf auf, von der sich zugleich markante Sichtachsen auf die DDR-Grenzanlagen boten. Im Frühjahr 1989 erklärte der Leiter des Zollkommissariats Witzenhausen: „Die Anziehungskraft auf auswärtige Gruppen ist fast so groß wie das Eichsfelder Kreuz“ – also jene Pilgerstätte bei Wanfried, die quasi als Ersatz für den Hülfensberg im DDR-Sperrgebiet errichtet wurde. Wenige Monate später fiel nicht nur die Mauer, sondern das ganze Herrschaftssystem der SED-Diktatur rasant zusammen. Die ehemalige Grenze verschwand, die Deutsche Einheit kam und in aller kürzester Zeit entstand am Schifflersgrund – auf der gegenüberliegenden Seite der Mahnstätte – ein Grenzmuseum, dass dafür sorgte, dass das Gedenken am 17. Juni fortgesetzt wird, ganz allgemein zur Erinnerung an die Opfer der SED-Diktatur.
Das Grenzmuseum öffnete bereits am 3. Oktober 1991, dem neuen Tag der Deutschen Einheit. Somit gehört die Einrichtung nicht nur zu den ersten und ältesten Grenzmuseen, sondern auch zu den ersten Einrichtungen in Ostdeutschland, die diesen Jahrestag in den Blick genommen haben. Inzwischen seit über 30 Jahren. Zieht man die Vorgeschichte seit 1982 dazu, sind es inzwischen vier Jahrzehnte.
Erinnert wird somit nicht nur schon sehr lange, sondern auch „von unten“. Es ist eben kein staatlich organisiertes, staatlich ritualisiertes Gedenken. Durch den Trägerverein ist es eine zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur, die mit dem 17. Juni auf besondere Art und Weise verbunden ist – aus freien Stücken, der Sache wegen. Die Formate haben dabei in den letzten Jahrzehnten durchaus gewechselt. Mal war es eine Podiumsrunde, mal eine stille Kranzniederlegung, mal ein Vortrag. Ganz gleich wie : immer wurde das Gedenken wachgehalten.
Damit schwimmt man ein Stück weit gegen den Strom. Umso länger die Ereignisse zurückliegen, umso mehr verblasst naturgemäß die kollektive Erinnerung, zumal der 17. Juni 1953 als ein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte nie die mediale Aufmerksamkeit erfahren hat, die der mutige Volksaufstand eigentlich verdient gehabt hätte. Nach der neuesten Forsa-Umfrage verbinden nur 37 Prozent mit diesem Datum den Volksaufstand in der DDR, bei den unter 44-Jährigen sind es weniger als ein Viertel. Sprich die Ereignisse geraten in Vergessenheit, was die Bedeutung der Erinnerungsarbeit, die im Grenzmuseum Schifflersgrund in den ersten 25 Jahren fast ausnahmslos im Ehrenamt geleistet wurde, nochmals unterstreicht.
Die Forderungen vom 17. Juni 1953 und die Werte, die wir heute hier vermitteln, sind im Übrigen in vielen Punkten identisch. Es geht um Demokratie, um Freiheit, um Einheit. Das Bewusstsein dafür zu stärken, ist unser Vermittlungsziel und vereint Sie und uns gewissermaßen auch alle. Hier und heute befinden sich ja viele Vertreter unterschiedlichster Einrichtungen und Ebenen – aus Kommunen, Kreisen, Ländern und vom Bund, aus Gesellschaft, Bildung, Kultur, Verwaltung und dem Naturschutz. Mit vielen von Ihnen gibt es Kooperationen und gemeinsame Projekte. In Zeiten, in denen die Demokratie und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht, ist das ein starkes Zeichen und ermutigendes Signal. In diesem Sinn sage ich Ihnen für Ihr Kommen und Ihre Aufmerksamt ganz herzlichen Dank.“