Titel Logo
Eisenacher Rathauskurier Amtsblatt der Stadt Eisenach
Ausgabe 7/2023
Aus dem Rathaus
Zurück zur vorigen Seite
Zurück zur ersten Seite der aktuellen Ausgabe
-

EISENACH FEIERT AVITAL BEN-CHORIN

Wer war Avital Ben-Chorin?

„Vogelsingen klingt durch die Lüfte, dich grüßen auch die Frühlingsdüfte“, schrieb Avital Ben-Chorin vor fast 100 Jahren in ihr Gedichtbüchlein. Zu dieser Zeit lebte sie, am 25. Februar 1923 als Erika Fackenheim geboren, in Eisenach.

Mit gerade einmal zwölf Jahren schrieb Avital Ben Chorin ein letztes Gedicht in ihr Büchlein, das sie zeitlebens begleitete, bevor sie sich ein Jahr später, 1936, entschied, Deutschland zu verlassen. Verfolgung durch das Regime des Nationalsozialismus trieb sie zur Auswanderung nach Palästina. Ihre Eltern blieben in Deutschland, das bis 1933 ihre Heimat war, zurück. Sie und andere Familienangehörige wurden 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet.

Sie lebte und arbeitete in Jerusalem, war israelische Hebräischlehrerin, Übersetzerin, literarische Sekretärin und Publizistin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Schalom Ben-Chorin wurde sie zur Pionierin des deutsch-israelischen Jugendaustauschs und Mitgründerin der ersten jüdischen Reformgemeinde in Israel und des israelischen Zweiges der „Women's International League for Peace and Freedom“ (WILPF).

1956 besuchte Avital Ben-Chorin zum ersten Mal seit ihrer Alija (Einwanderung von jüdischen Menschen ins Land Israel) 1936 Deutschland, um ihren Ehemann zu dessen Vorträgen zu begleiten, hielt später selbst Vorträge und engagierte sich in der Aktion Sühnezeichen.

Von 1963 bis 1973 organisierte sie mit ihrem Ehemann erste Reisen von israelischen Jugendgruppen nach Deutschland. Sie war für zahlreiche Besuchergruppen aus Deutschland und deutschen Volontär*innen in Israel Gesprächspartnerin für Einführungen in das Judentum und für einen Gedankenaustausch über die israelisch-deutschen Beziehungen.

Im Jahr 2012 erhielt Avital Ben-Chorin die Ehrenbürgerwürde der Stadt Eisenach, ein Jahr später das Bundesverdienstkreuz. Sie starb am 6. Oktober 2017 in Haifa in Israel. Ein Teil ihres Nachlasses befindet sich im Stadtarchiv Eisenach.

„Avital Ben-Chorin war nicht nur eine hochgeschätzte Ehrenbürgerin. Sie war eine außergewöhnliche Frau, deren Kraft ich nur bewundern kann: Eine Vermittlerin zwischen den Religionen, Generationen und Nationen. Sie fand trotz ihrer Vertreibung im Jahr 1936 und des Verlustes Ihrer Familie in der Shoa die Stärke, eine Freundin des neuen Eisenachs zu werden, das doch immer ein Stück ihrer alten Heimat geblieben war. Sie wurde zur Vermittlerin einer Versöhnungsbotschaft, die das Erlittene nicht negierte und dennoch in die Zukunft blickte. Unzählige Eisenacherinnen und Eisenacher haben dieser Botschafterin bei ihren Besuchen in der Wartburgstadt gern und aufmerksam zugehört. Wir werden ihr Andenken bewahren“, Oberbürgermeisterin Katja Wolf über Avital Ben-Chorin.

Sie war getragen vom Geist einer christlich-jüdischen Verständigung. Ihr zu Ehren veranstaltete die Stadt Eisenach vom 3. bis 5. Juli die Begegnungstage anlässlich ihres 100. Geburtstages. Eigens dafür war auch deren Tochter Ariela Kimchi mit ihrem Mann Nissim angereist.

BEGEGNUNGSTAGE ZUM 100. GEBURTSTAG VON AVITAL BEN-CHORIN

Die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Avital Ben-Chorin begannen am Montag, 3. Juli mit einer öffentlichen Bildungsveranstaltung der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, dem "Tacheles mit Simson" Projekt. Die Erfahrtour zum Jüdischen Leben vermittelt Wissen und wirbt für Offenheit und Toleranz. In verschiedenen medialen Angeboten und Gesprächen werden Vorurteile abgebaut und ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus gesetzt.

Die Feierlichkeiten wurden am Nachmittag des 3. Juli fortgesetzte. Das inklusive Kunstprojekt "Erinnerungen an Avital" wurde vor dem ehemaligen Wohnhaus vor dem ehemaligen Wohnhaus von Dr. Julius Fackenheim, ihrem Großvater, in der Schmelzerstraße 14 eröffnet. Dort befindet sich heute das Gemeinschaftliche Wohnen Schmelzerhof, eine Einrichtung der Diako Thüringen gem. GmbH. In Kooperation mit dem Gemeinschaftlichen Wohnen Schmelzerhof, dem Inklusions- und Teilhabeprojekt „FalXnetztreff“ und dem „Kunstverein Eisenach" entstand die Idee, das Haus mit Fotodrucken der Ehrenbürgerin und Textpassagen aus dem Gedichtbuch zu schmücken. Die Projektteilnehmer*innen wählten aus, schrieben ab, bearbeiteten die Vorlagen - mit technischer Unterstützung durch die Medienpädagogen des dbi - digital. Daraus ist das Kunstprojekt „Erinnerungen an Avital“ entstanden.

Es folgten am Dienstag Begegnungen mit Schüler*innen des Elisabeth-Gymnasiums, die ihr Projekt „Zweitzeugen“ vorstellten, wofür sie im Rahmen ihrer Projektwoche verschiedene Interviews führten, und der Goetheschule mit ihrem Projekt „Jüdisches Leben in Thüringen“.

Eisenach hat nun einen Avital Ben-Chorin-Platz

Im Rahmen der Begegnungstage wurde die Esplanade in „Avital Ben-Chorin-Platz“ umbenannt. Den Beschluss dazu hatte der Stadtrat in einer seiner Sitzungen mit großer Mehrheit gefasst. „Wir machen damit die traditionsreiche jüdische Vergangenheit im Stadtbild sichtbar und würdigen das verdienstvolle Wirken unserer Ehrenbürgerin“, sagte Oberbürgermeisterin Katja Wolf bei der Enthüllung des Straßenschildes.

Die Esplanade ist der geeignete Ort, da er zwischen dem Lebensmittelpunkt der Erika Fackenheim, dem Haus ihres Großvaters, Schmelzerstraße 14, und ihrer Schule, der damaligen Charlottenschule (heutigen Goetheschule) liegt.

Festveranstaltung "100. Geburtstag Avital Ben-Chorin"

Oberbürgermeisterin Katja Wolf eröffnete am Dienstagabend die Festveranstaltung im Rokokosaal des Stadtschlosses.

„Ich hatte das Glück - und dafür bin ich unendlich dankbar -, dass ich Avital Ben-Chorin persönlich kennenlernen durfte“, so Katja Wolf während der Veranstaltung. „Ich blicke dabei auf viele bewegende Momente zurück. Heute feiern wir diese zierliche, warmherzige und dennoch starke, resolute Frau, die sich trotz ihres Schicksals mit all ihrer Kraft für Verständigung einsetzte und ihr Leben der Versöhnung widmete.“

Ihr zu Ehren enthüllte Oberbürgermeisterin Katja Wolf gemeinsam mit Avitals Tochter, Ariela Kimchi, ein Gemälde, eigens angefertigt vom Eisenacher Künstler Jost Heyder. Er hatte seinerzeit die Eltern von Avital Ben-Chorin in Bleistiftskizzen gemalt, welche ihr zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde im Jahr 2012 geschenkt wurden. Diese Skizzen gingen nach ihrem Tod wieder über den Nachlass an die Stadt zurück.

Musikalisch untermalt wurde der Abend von Diana Pfeifer und Alexej Pfeifer sowie dem Chor der 5. Klasse des Martin-Luther-Gymnasiums mit Lehrerin Almuth Heinze. Beiträge von Schüler*innen der Goetheschule mit Texten zur Biographie Avital Ben-Chorins und ein Gespräch zwischen Schüler*innen des Elisabeth-Gymnasiums und Ariela Kimchi rundeten das Programm ab.

Auch das Gedichtbuch von Avital Ben-Chorin wurde vorgestellt. Das Originalbuch ist in der Sonderausstellung des Lutherhauses Eisenach zum kirchlichen ‚Entjudungsinstitut‘ zu sehen. Vom 4. bis einschließlich 7. Juli 2023 bietet das Lutherhaus Eisenach einen rabattierten Eintrittspreis für den Besuch der Sonderausstellung.

Das Gedichtbuch von Avital Ben-Chorin wird von der Eisenacher Kulturschaffenden Alexandra Husemeyer herausgegeben. Dieses Projekt wurde durch Förderung der Stadt Eisenach, der Evangelischen Kirchgemeinde Eisenach, dem Kirchenkreis Eisenach-Gerstungen und der Evangelischen Diakonissenhaus-Stiftung ermöglicht. Es erscheint in einer Auflage von 500 Stück und ist ab sofort im Museumsshop des Lutherhauses und in der Buchhandlung "Leselust" am Eisenacher Markt erhältlich.

Lesungen und Bildungsangebote zum Gedichtbuch und Leben von Avital Ben-Chorin sind ab sofort buchbar bei:

Alexandra Husemeyer, a.husemeyer@gmx.de.

Wie kam es zu diesem Büchlein?

(Dr. Reinhold Brunner)

Man ist berührt beim Lesen jener kindlich-naiven Reime und Gedichte. Eine Heranwachsende im so genannten „Backfisch-Alter“ hat sie vor fast 100 Jahren aufgeschrieben. Damals lebte Erika Fackenheim noch in Eisenach - ein Kind, im jüdischen Glauben beheimatet und in der deutschen Kultur verwurzelt. Sie war noch keine zehn Jahre, als sie ihre kindlichen Gedanken in einen ersten Reim goss. Erika muss sich in Palästina, wohin sie vor ihren Peinigern geflohen war, manchmal sehr einsam gefühlt haben, in einer anderen Kultur, einer anderen Sprache. Vielleicht gaben ihr die selbst verfassten Verse hier so manches Mal halt.

Erika war noch jung genug, um in einer neuen Sprache, einer neuen Kultur Fuß zu fassen. Sie nahm den Namen Avital an und heiratete den Religionsphilosophen Shalom Ben-Chorin. In Israel lebte sie ein erfülltes Leben, das sich 2017 nach mehr als neun Jahrzehnten vollendete.

Das kleine Büchlein hat sie zeitlebens begleitet. Als sich ihre Kinder entschlossen, den Nachlass Avital Ben-Chorins jener Stadt zu vermachen, in der sie als Erika Fackenheim das Licht der Welt erblickte hatte, kehrte dieses berührende Zeugnis einer behüteten Kindheit nach Eisenach zurück. Es ist ein Symbol dafür, dass die Menschlichkeit die Barbarei besiegt hat.

Jede Mutter begleitet aufmerksam und mit teilnehmendem Herzen, auf welche Weise sich ihr Kind die Welt erschließt. So wird es vielleicht auch Herta Fackenheim ergangen sein, als ihr ihre Tochter die ersten selbst gereimten Verse vorgelesen hat, manches Mal geradezu eine „Ode an die Mutter“. Man mag sich nicht vorstellen, wie es ihr gegangen ist, als sie Erika 1936 mit gerade einmal 13 Jahren in die Emigration verabschiedete.

Herta Fackenheim hat das Erwachsenwerden ihrer Tochter in Palästina später Israel, nicht erleben können. Aber das Band zwischen Mutter und Tochter, das Erikas Verse geknüpft hatte, überdauerte die Zeit.

„Ich glaube, dass diese Kindergedichte den heute heranwachsenden einen Zugang zur Geschichte eröffnen, wie es kein Lehrbuch vermag“, so die Oberbürgermeisterin über das Gedichtbuch.