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Neue Werra-Zeitung
Ausgabe 15/2024
Amtlicher Teil
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Nach über 100 Tagen im Amt: Meine Sicht auf die Lage der Gemeinde Gerstungen

(Teil 1)

Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger,

nach mehr als 100 Tagen im Amt als Bürgermeister schreibe ich diesen Lagebericht. Mir ist es wichtig, Sie in gewissen Abständen über meine Arbeit zu informieren. Damit haben Sie die Möglichkeit, eins zu eins meine Einschätzungen, Sichtweisen und Zielstellungen zu kennen.

Gerstungen heute

Unsere Gemeinde in ihrer heutigen Form hatte am 6. Juli 2024 ihren sechsjährigen Geburtstag. Seither bin ich der dritte Bürgermeister. Damit ist schon die erste Besonderheit der „neuen“ Großgemeinde Gerstungen beschrieben.

Seit der „Eingliederung“ der früher selbstständigen Gemeinden Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda ist die „alte“ Gemeinde Gerstungen Geschichte. Die politischen Gewichte haben sich Richtung Osten verschoben. Vor allem mit Marksuhl ist ein historisch bedeutsamer, wirtschaftlich starker und gesellschaftlich selbstbewusster Ortsteil dazugekommen. Mit den früheren Marksuhler Ortsteilen Burkhardtroda, Eckardtshausen, Förtha und Lindigshof reicht die heutige Gemarkung Gerstungens bis an die Grenzen von Bad Salzungen, Wutha-Farnroda und Ruhla.

Wolfsburg-Unkeroda - historisch und aktuell meiner Ansicht nach besonders Eisenach zugewandt - sucht noch etwas seinen Platz in der heute sehr großen Gemeinde Gerstungen.

Ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit

Die „Altgemeinde“ Gerstungen in Ihren Grenzen vor dem 6. Juli 2018 durchlief selbst zwei Gebietsreformen. 1994 wurde Gerstungen um Neustädt und Sallmannshausen erweitert. Im Jahr 2004 kamen die damals jeweils selbstständigen Gemeinden Lauchröden, Oberellen und Unterellen als neue Ortsteile nach Gerstungen.

Es gelang der „Altgemeinde“ Gerstungen stets, diese Eingemeindungen über die Jahre hinweg wirtschaftlich, infrastrukturell und gesellschaftspolitisch zu intergieren und zu entwickeln. Meiner Ansicht nach hatte sich die Gemeinde Gerstungen damit alle Voraussetzungen für den langfristigen Erhalt der kommunalpolitischen Selbstständigkeit fundiert erarbeitet.

Ganz anders stellte sich die Lage für die ehemaligen Gemeinden Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda dar. Beide Gemeinden hatten Mitte der 2010er Jahre keine andere Alternative einer Eingemeindung nach Eisenach zu entgehen, als die freiwillige Eingliederung in die Einheitsgemeinde Gerstungen auf den Weg zu bringen. Alle verantwortlichen Gemeinderäte von Gerstungen, Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda beschlossen einstimmig die Bildung der heutigen Großgemeinde Gerstungen. Vorausgegangen waren Vertragsverhandlungen zwischen den damaligen Bürgermeistern von Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda sowie der ehemaligen Bürgermeisterin von Gerstungen.

Die Gemeinde Gerstungen hat also zum dritten Mal seit der Wiedervereinigung ihr Gemeindegebiet erweitert.

Trotz massiver Kritik der Eisenacher Oberbürgermeisterin genehmigte der Freistaat Thüringen die Eingliederung von Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda. Damit entstand 2018 mit 9.165 Menschen die einwohnerstärkste Kommune Thüringens ohne Stadtrecht und mit 149,98 km² eine der flächenmäßig größten Gemeinden Thüringens. Zum Vergleich: die Stadt Gera umfasst eine Fläche von rund 152 km² bei ca. 94.000 Einwohnern - also bei fast der gleichen Fläche wie Gerstungen zehnmal mehr Einwohner.

Damit komme ich zur Kern-Herausforderung: dem Einwohner-Flächen-Verhältnis

Alle kommunalen Pflichtaufgaben (bspw. Brandschutz, Wasser/Abwasser, Kindergärten) sind in solch großen Kommunen grundsätzlich aufwändiger zu organisieren. Meiner Einschätzung nach liegt die Idealgröße für ländlich strukturierte Gemeinden bei uns in Thüringen zwischen 5.000 und 7.000 Einwohnern - bei maximal sechs bis sieben Ortsteilen und einer Fläche von maximal 80 km². In solchen Idealstrukturen haben die Ortsteile meistens historisch gewachsene Verbindungen, die Nähe der Verwaltung zu den Einwohnern ist noch vorhanden und die Pflichtaufgaben können gemeinsam tatsächlich effektiver erfüllt werden. Alles, was darüber hinausgeht, kann nur mühsam solche Effizienz-Effekte erzielen. Diese Erfahrungen konnte ich persönlich in meiner Heimatgemeinde Hörselberg-Hainich sammeln. Dass sich die Landespolitik an deutlich größeren Gemeindestrukturen orientiert, geht meiner Ansicht nach häufig an den realen Bedingungen vor Ort vorbei und offenbart ein zentralistisches Denken der aktuellen Landesregierung. Überdehnte Gemeindegebilde leiden häufig unter mangelnder Verwaltungskraft und fehlender politischer Akzeptanz seitens der Einwohnerschaft. Die reine Fixierung auf die Einwohnerzahlen bei gleichzeitiger Ausblendung des Flächen-Management-Aufwandes (hoher Aufwand beim Ausbau und Erhalt der Infrastruktur wie Straßen, Brücken usw.) stellt diese Großgemeinden vor teilweise kaum lösbare Aufgaben.

Gerstungen: „Wir wollen und können!“

Meiner Überzeug nach ist es für die Akzeptanz unserer noch jungen Gemeinde sehr wichtig, die Menschen in den Ortsteilen - also Sie - möglichst gut mit den gemeindlichen Dienstleistungen zu versorgen, jedem einzelnen Ortsteil eine Entwicklungsperspektive zu geben und sie an der politischen Willensbildung bestmöglich zu beteiligen. Dazu müssen alle Ortsteile die Chance haben, ihre eigenen Identitäten und gewachsenen Besonderheiten zu erhalten, zu pflegen und zu entwickeln. Dazu brauchen die Dörfer ein gewisses Maß an Autonomie. Dann, erst dann, hat eine solch große und vielfältige Gemeinde wie unsere eine tatsächliche Perspektive. Damit meine ich die Perspektive auf eine stärkenorientierte Gesamtentwicklung - also eine Bündelung der positiven Kräfte. Dieser Entwicklungsprozess ist womöglich die eigentliche Stärke dieser Großgemeinden. Er muss aber von innen heraus kommen, von der Bevölkerung gewollt, verstanden und vorangetrieben werden. Dazu braucht es den Blick auf das Verbindende, die gemeinsamen Chancen, Vertrauen, Solidarität, Toleranz und Durchhaltevermögen.

Daniel Steffan

Bürgermeister

Zitat:

„Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.“

 — Heinrich Mann (Schriftsteller)

(Teil 2 folgt in einer der nächsten Ausgaben)