Dr. Wilhelm Engel (1905-1964)
Schluss
Den Ungewissheiten zu Kahlas Gründungsphase schließt sich bei Dr. Engel das Problem der hoheitlichen Zugehörigkeit der Stadt vor Inbesitznahme durch die Lobdeburger an. Denners Behauptung (Mitteilungen, Bd. 8, S. 151), Kahla sei nach dem Aussterben des sächsischen Kaiserhauses 1024 an die Grafen von Orlamünde gekommen, sei „nicht einmal vom Schatten eines Beweises gestützt“. An dieser sehr schroffen Bemerkung wird Dr. Engels herabwürdigende Kritik besonders deutlich, denn Denner kann für seine Annahme zwar keine eindeutige Quelle, aber doch einige naheliegende Argumente anführen. Zunächst verweist er darauf, dass „alle namhaften Mitglieder unseres Vereins, verstorbene und noch lebende, die Löbe, Lommer, Bergner, Schaffner und Lehmann“, seine Meinung teilen. Darüber hinaus beruft er sich auf „andere namhafte Forscher von gutem Ruf“, die Kahla als Teil der Orlamünder Grafschaft angesehen haben bzw. dies nahelegen. Namentlich nennt er Otto Dobenecker mit Verweis auf einige Quellen im 1896 erschienenen 1. Bd. des bereits erwähnten grundlegenden Regestenwerks zur mittelalterlichen Landesgeschichte Thüringens, Hans Großkopf (Die Herren von der Lobdeburg, Neustadt a. d. O. 1929, S. 78) und Theodor Knochenhauer (Thüringische Geschichte in der Karolingischen und sächsischen Zeit, Gotha 1863, S. 75, 83).
Quintessenz dieser ausgedehnten „Beweisführung“ Denners ist, dass Kahla von jeher zum Reichslehen Gau Husitin [Landstrich zwischen Ilm und Saale] gehört habe und dieser Gau „als Keimzelle für die Grafschaft Orlamünde angesehen werden muß“. Wenn das alles Dr. Engel nicht überzeuge, solle er die kürzlich erschienene Arbeit seines Vorgesetzten im thüringischen Archivwesen, Dr. Armin Tille (Einführung in die Thüringische Geschichte, Jena 1931), zur Hand nehmen. Dort könne er „auf S. 33 lesen, daß die Grafen von Weimar-Orlamünde ein im Gau Husitin begütertes Haus gewesen sind, und auf S. 45, daß Kahla sicher seit 1283 den Herren von Lobdeburg gehört hat, vorher aber orlamündisch gewesen ist“. Zur Bekräftigung verweist Denner dann noch auf die bekannten Zeugenaussagen der Kahlaer Burgmannen in Urkunden der Orlamünder Grafen [1184, 1194, 1199, 1206, 1227, 1231, 1246], die sich nur erklären ließen, wenn diese Burgmänner im Dienste dieser Grafen standen. Den von ihm ausgiebig behandelten Punkt, ob Kahla nach dem Aussterben des sächsischen Königshauses unter orlamündische Landeshoheit gekommen sei, beendet Denner mit der Gegenfrage: „Wo soll es denn sonst hingekommen sein? Nach der Türkei?“
Im Grunde konnte auch Dr. Engel keine Alternative aufzeigen, so dass er im Zusammenhang mit den erwähnten Zeugenaussagen in seiner „Philippika“ selbst die Möglichkeit einräumt, „daß der Ort und die Burg Kahla Besitz der Grafen von Orlamünde gewesen sind“. Diesen Widerspruch aufgreifend stellt Denner zurecht die Frage, mit welchem Recht Dr. Engel „vom hohen Roß herunter eine ganze Reihe unserer in der Erforschung heimatlicher Geschichte ergrauter Männer in dieser Weise abkanzelt und auf die Schulbank zu zwingen sucht“.
Bis heute ist die Zugehörigkeit Kahlas zur Grafschaft Orlamünde nicht eindeutig durch Quellen gesichert. Sie wird jedoch als sehr wahrscheinlich angesehen. In seinem Buch „Recht und Verfassung thüringischer Städte“ aus dem Jahre 1955 schreibt der ausgewiesene Kenner der thüringischen Geschichte, Hans Patze, vor allem mit Verweis auf den oben erwähnten Armin Tille: „Da die Lehensabhängigkeit der Ministerialen von Kahla von den Grafen von Orlamünde als gesichert angenommen werden kann, so ergibt sich, daß Kahla wahrscheinlich vom Ausgang des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zum Herrschaftsbereich der Orlamünder gehört hat.“ (S. 114.)
Unter der Zwischenüberschrift „Verfassungsgeschichte“ äußert sich Dr. Engels dann zu den Anfängen der inneren Stadtgeschichte Kahlas, über die „das gleiche Dunkel“ liege wie über der oben erörterten frühmittelalterlichen politischen Geschichte. Seine kritischen Seitenhiebe richten sich hier besonders gegen Passagen aus den ersten Kapiteln in Heinrich Bergners „Geschichte der Stadt Kahla“, die er, wie ein Vergleich mit Bergners Werk zeigt, jedoch nicht sachgerecht zusammenfasst. So sei „die von Bergner vermutete Entwicklungslinie: slawisches Dorf Kamisch > deutsches, von slawischen Arbeitern bewirtschaftetes Vorwerk des Burggutes Kahla > Wüstung Niederkahla willkürlich und gewagt“. Ebenso falsch sei die Annahme einer „langen Entwicklung [der Stadt], die allmählich vom Dorf über Markt zur Stadt führt“. Bei Kahla handele es sich um „eine bewußte [unmittelbare? - P.K.] Stadtgründung. Demnach seien auch alle Vermutungen „einer Entstehung der Stadt Kahla im 9. oder 10. Jahrhundert verfehlt“. Am Rande lehnt Dr. Engel noch die Ableitung des Straßennamens „Entenplan“ (heutige Heimbürgestraße) von „Wendenplan“ ab, die Bergner mit den dort vermuteten Resten der slawischen Bewohner des ehemaligen Niederkahla begründet. (S. 40.) Da stimme ich dem Archivar zu.
Bei diesem ihn nicht direkt betreffenden Komplex hält sich Denner in seiner Replik zurück. Mit Verweis auf seinen Beitrag im Geschichts- und Hauskalender des Vorjahres konstatiert er lediglich, dass dieser Teil von Dr. Engel „wohl kaum etwas Neues“ bringe. Nur in einem Punkt widerspricht er dem Kritikus. Die Zweidrittel der oberen Gerichtsbarkeit, die die Stadt 1487 pachtweise erworben hatte, seien bereits 1718 von der Regierung wieder zurückgezogen worden. Dr. Engels hatte diese Rücknahme erst für 1832 angegeben. In seinen „Jahrbüchern“ bleibt Denner später bei seiner Datierung.
Bei Hans Patze lesen wir zur Stadtgründung, im Kern Wilhelm Engel folgend, aber rücksichtsvoller im Ton, folgendes (S. 116): „Die Gründung Kahlas darf man mit einiger Gewißheit Hermann VII. von Lobdeburg-Leuchtenburg (1282-1325) zuweisen. Der Zeitpunkt der Stadterhebung kann urkundlich etwa auf die Jahre zwischen 1287 und 1299 eingeengt werden. […] Der Stadtgrundriß zeigt deutlich, daß es sich um eine Plangründung handelt.“ In einer Fußnote dazu heißt es: „Die Kahlaer Heimatforschung, die viel Förderliches geleistet hat, stellte über die Anfänge der Stadt nicht zu begründende und unhaltbare Hypothesen auf. Noch weiter als der schon genannte Bergner geht F[ranz] Lehmann, der unter ‚Berücksichtigung aller hier in Frage kommenden Umstände‘ behauptet: ‚Kahla wurde gegründet im Jahre 632 oder 633 durch Radulf, den ersten Herzog von Thüringen‘.“ Hinsichtlich der Obergerichtsbarkeit bestätigt Patze (S. 125-127) den Standpunkt von Denner. 1832 sei lediglich das eine noch im Besitz der Stadt befindliche Drittel der Obergerichtsbarkeit an das Land gegangen.
Zu dem in der Überschrift seines Artikels angekündigten Thema, auf das Dr. Engel nach diesen ausführlichen Präliminarien nun kommt, äußert sich Denner gar nicht. Aber auch hier spart Dr. Engel nicht mit drastischen Abkanzelungen. So seien Karl Apetz und Viktor Lommer „Opfer grober Irrtümer und blühender Phantasie“ geworden. Wenn sie zum Beispiel in dem sechsstrahligen Stern einen Hinweis auf den nord-germanischen Hauptgott Odin sähen, so erübrige sich „über die Abwegigkeit dieser Erklärung jedes Wort“. Allerdings kann auch Dr. Engel den Stern nicht sicher deuten. Die ebenfalls von ihm scharf kritisierte Verwechselung der altchristlichen Heiligen Margaretha mit der 1251 heiliggesprochenen Schottenkönigin Margaretha gehört zu den Argumenten, die dafür sprechen, dass es sich bei der Frauenfigur am Eckhaus von Margarethenstraße und Markt nicht um eine Margarethen-, sondern um eine Marienfigur handelt. (Siehe dazu „Kahlaer Nachrichten“, 21. Juni 2018.)
Resümierend charakterisiert Denner den Text von Dr. Engel als eine „im höchsten Grade unfreundliche Kritik“. Dem stimme ich zu. Denners Frust ist umso größer, als er die Auslassungen des Staatsarchivars in eine Reihe weiterer von Altenburg ausgehender unfreundlicher Akte gegenüber der Stadt und dem Verein stellt: „Alles hat man uns in dem heute so kleinen Kahla entzogen, einen großen Teil der Behörden und Beamten, ein volles Drittel der Ortschaften und damit einen Teil unserer Mitglieder, weiter aber auch jedwede Unterstützung und Hilfe. Zuletzt sind sogar noch die Akten und Schriften der Leuchtenburg und des Amtes nach Altenburg gebracht worden.“ Dies erschwere die hiesigen Forschungen zur Lokalgeschichte, denn: „Mancher wird die dadurch entstehenden Scherereien scheuen und mißmutig die Feder zur Seite legen.“ Auch aus dem Museum des Vereins seien dessen Glanzstücke in die Musen von Berlin, Altenburg und Jena verfrachtet worden. Der Verein müsse heute „schwer kämpfen, will er nur die Druckkosten für seine Veröffentlichungen aufbringen“. Und er stellt die Frage: Will man dem Verein „das letzte, was ihm geblieben - die von der Liebe zum Erbe der Väter geborene Freude an der Erforschung jener Geschichte, etwa auch noch verekeln?“ Zwar anders motiviert und von anderen Sachverhalten beschränkt, stellt sich auch der Autor dieses Beitrags gelegentlich diese Frage.
Mögen unsere altvorderen Laien-Historiker auch die eine oder andere Lücke in den Quellen durch Spekulation zu schließen versucht haben, so rechtfertigt das nicht eine derart herabwürdigende Besprechung ihrer Leistungen. Wie erklärt sich diese schroffe Abkanzelung durch den professionellen Historiker? Volker Wahl, heutiger Nestor der thüringischen historischen Archivare, hat vor einigen Jahren in dem Sammelband „Lebensbilder Thüringer Archivare“ (Rudolstadt 2002, S. 55-64) eine biografische Skizze über Wilhelm Engel veröffentlicht. Darin bescheinigt er dem 1905 in Meiningen geborenen Archivar, der neben dem Staatsarchiv in Altenburg zeitweise parallel die gleichen Einrichtungen in Rudolstadt und Meiningen leitete, große Befähigung für die damit verbundenen Tätigkeiten. Zugleich hebt er aber auch Engels übertriebenen Ehrgeiz hervor, der sich in diesen Jahren darauf richtete, die Nachfolge von Armin Tille, dem übergeordneten Direktor aller Thüringer Staatsarchive mit Sitz in Weimar anzutreten. Möglicherweise gehörten solche überzogen besserwisserische Veröffentlichungen zu seinen Profilierungsaktivitäten. Als dann im September 1934 jedoch Willy Flach Nachfolger von Tille wurde, fühlte Engel sich übergangen. Daraufhin strebte er, mittlerweile Mitglied der NSDAP und des kulturpolitischen Sicherheitsdienstes der SS, in Berlin in verschiedenen Ämtern eine kultur- und wissenschaftspolitische Karriere an. Dort ging er jedoch im Kompetenzgerangel der diversen Gliederungen innerhalb der faschistischen Kultur- uns Wissenschaftspolitik unter. Von Würzburg aus, wohin er sich Ende 1937 zurückgezogen hatte, leistete er vor allem nach 1945 Beachtliches in der Forschung zur fränkischen Geschichte. Seine Hoffnung, auf diesem Feld wieder Anschluss an eine Universität zu erlangen, erfüllte sich aber nicht. Von der Familie und ehemaligen Freunden verlassen, starb er 1964 in Würzburg. „Unduldsamkeit, Bitterkeit und Menschenverachtung“, so Volker Wahl, hatten seinen Lebensweg geprägt.
Sein Kontrahent Richard Denner brachte nach dieser Kontroverse 1935 noch das letzte Heft der „Mitteilungen“ des Geschichtsvereins heraus, das gänzlich aus vier von ihm verfassten Beiträgen besteht. Kurz vor seinem Tode am 5. Dezember 1937 konnte er sein Hauptwerk „Jahrbücher zur Geschichte der Stadt Kahla“ abschließen, das dann zu Beginn des folgenden Jahres gedruckt vorlag.
Bleibt noch eine Merkwürdigkeit zu erwähnen. Beide Kontrahenten waren von Jugend an Anhänger der vielgestaltigen völkischen Ideologie. Und für beide mag daraus auch das Interesse an der regionalen Geschichte erwachsen sein. - Ob sie von dieser Gemeinsamkeit gewusst haben?
Peer Kösling