Abb. 1: Lucas Cranach (d. J.?), etwa 1543: Martin Luther und die Wittenberger Reformatoren (Ausschnitt; Museum of Art, Toledo/USA)
Abb. 2: Zuordnung der abgebildeten Personen
Abb. 3: Ausschnitt aus dem Cranach-Gemälde, wahrscheinlich Johann Walter darstellend. Gesichtsausdruck typisch für die Erkrankung Myasthenia gravis. (Bearbeitung: Melanie Kater für Förderverein Europa Begenungen e.V. Torgau)
In Kahla wurde 1496 Johann Walter geboren, Komponist, Freund und Berater Martin Luthers und „Ur“-Kantor der Evangelischen Kirche. In der damals kurfürstlichen Residenzstadt Torgau wirkte er die meiste Zeit seines Lebens. In beiden Städten wurde immer besonders bedauert, dass man keine Vorstellung von seinem Aussehen hatte, denn von dieser musik- und reformationsgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeit gab es kein Porträt.
Die Hofmaler Lucas Cranach d. Ä. und d. J. porträtierten im 16. Jh. immer wieder wichtige Personen des kursächsischen Staates und der Reformation. Von ihnen gemalt existierte offenbar auch ein Bildnis Johann Walters, das etwa 1545 gefertigt und in einer Torgauer Quelle (Mitte 18. Jh.) beschrieben wird: ein Mann, der mit einem zusammengerollten Notenblatt in der Hand dirigiert. Ein entsprechendes Bild tauchte 1906 beim Aufräumen auf dem Dachboden des Torgauer Gymnasiums auf. Es zeigte, wie es hieß, einen Mann mit „breitem Bauernschädel“, kurzsichtigem Blick und einer Notenrolle in der Hand.
Dieses Bild verschwand jedoch in den Jahren danach. Vermutet wird, dass ein ehemaliger Schüler des Torgauer Gymnasial-Chors es entwendete und mit sich nahm, als er in die USA auswanderte. U. a. in Torgau und Jena wurden seither mehrfach Versuche unternommen, dieses Porträt Walters in den USA aufzuspüren, die jedoch vergeblich blieben. Das Bild ist nach wie vor verschollen.
In Torgau gibt es den Förderverein Europa Begegnungen e. V. unter Vorsitz des Historikers Dr. Uwe Niedersen. Wegen der bislang vergeblichen Suche nach dem verschwundenen Porträtbild verfolgten die Mitglieder des Vereins schließlich einen anderen Ansatz. Sie nahmen an, dass auf Gemälden mit Vertretern von Kirche und Staat auch für die reformatorische Bewegung bedeutende Personen aus der Bürgerschaft mit abgebildet wurden und sich unter diesen vielleicht Johann Walter befinden könnte. Bei ihren Recherchen stießen sie auf ein Bild Cranachs, gemalt etwa 1543, das sich im Museum of Art in Toledo (USA) befindet.
Dieses (wohl ein Seitenflügel eines Triptychons) trägt die Bezeichnung „Martin Luther und die Wittenberger Reformatoren“ (Abb. 1). Auf dem Bild steht in der Mitte einer Personengruppe Kurfürst Johann Friedrich (s. Abb. 2, Nummer 1), daneben sind die führenden Reformatoren Martin Luther (2) und Philipp Melanchthon (3) abgebildet, ebenso in der ersten Reihe die Ratgeber des Kurfürsten Georg Spalatin (4) und Kanzler Gregor Brück (5) - somit ist die Verbindung der geistlichen Reformation (Sitz in Wittenberg) und des politischen Zentrums Torgau dargestellt.
Bei den im Hintergrund nur mit ihren Köpfen sichtbaren Personen handelt es sich um verdiente Vertreter aus der Bürgerschaft. Sie konnten durch Vergleiche mit anderen Gemälden oder durch Angaben aus Schriftquellen identifiziert werden:
| (6) | Hans Lufft, Drucker der ersten vollständigen Lutherbibel 1534, mit seinem typischen kunstvoll geflochtenen Bart. |
| (7) | wahrscheinlich Bartholomäus Vogel, angesehener Verleger und Buchhändler in Wittenberg. |
| (8) | Zuordnung unsicher: vielleicht Christian Döring, Freund Luthers, Kaufmann und Verleger; betrieb zusammen mit Lucas Cranach d. Ä. eine Druckerei, wo die erste Auflage 1524 des Geistlichen Gesangbüchleins von Johann Walter gedruckt wurde. |
| (9) | wohl Lucas Cranach d. J. mit seinen charakteristischen Locken. |
| (10) | wahrscheinlich Christian Brück, Sohn des Kanzlers Brück und Schwager von Lucas Cranach d. J. |
Übrig bleibt der Mann, dessen Kopf vom Barett Kanzler Brücks und vom Gesicht Melanchthons teilweise verdeckt wird. Er unterscheidet sich auffallend von den anderen abgebildeten Personen durch seinen Gesichtsausdruck mit den herabhängenden Augenlidern und Mundwinkeln. Die Forscher aus dem Torgauer Verein nahmen an, dass es sich hierbei um Johann Walter handeln könnte.
Wegen des ungewöhnlichen Gesichtsausdrucks legten sie das Bild einem Augenarzt und einem Neurologen vor. Diese diagnostizierten eindeutig und übereinstimmend Myasthenia gravis - eine Autoimmun-Erkrankung, für die solche auffällige Mimik sehr typisch ist. Grund ist eine Störung der Übertragung der Nervenimpulse an die Muskulatur. Die resultierende „Schwäche“ der Muskeln beschränkt sich nicht nur auf das Gesicht, sondern kann den gesamten Körper erfassen und ist belastungsabhängig.
Bei der Beschreibung des verschollenen Porträts wurden der breite Schädel und der kurzsichtige Blick des Abgebildeten genannt (offenbar wurden die wohl auch dort auffällig dargestellten Augen fälschlich als Kurzsichtigkeit interpretiert). Zudem gibt es eine Reihe von archivalischen Quellen, die davon berichten, dass Johann Walter Probleme mit den Augen hatte und unter einer Beeinträchtigung litt, die sich vor allem bei starker Belastung zeigte. Sie wird u.a. als „Schwachheit des Leibes“ erwähnt. Auf diese Einschränkung, die sich natürlich auf seine Arbeitsfähigkeit auswirkte, wurde bei der Festlegung der Dienstpflichten Walters in Torgau Rücksicht genommen.
Nach Einschätzung des Autors Niedersen sprechen die genannten Indizien dafür, dass es sich bei dem in der Gruppe abgebildeten Mann (Abb. 3) mit hoher Wahrscheinlichkeit um Johann Walter handeln dürfte. Solange nicht gewichtige Hinweise gefunden werden, die dagegensprechen, oder das verschwundene Einzelbildnis Walters auftaucht, hätte damit der große Sohn unserer Stadt endlich ein Gesicht für uns.
Quellen: Niedersen, U.: Johann Walter ein Gesicht geben. - Theologische Zeitschrift 80/3 (2024), 227-251. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/df/ Lucas_Cranach_the_Younger_-_Martin_Luther_and_the_Wittenberg_Reformers_-_Google_Art_Project.jpg (abgerufen am 29.10.2024)
Maren Hellwig