Die öffentlich geführte Diskussion über den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst wird der aktuellen Situation in den Städten und Gemeinden nicht gerecht. Insbesondere die Diskussion darüber, wie die entstehenden Mehrkosten gedeckt werden, ob nun durch Einsparung von Investitionen oder durch Erhöhung von Steuern, greift zu kurz. Gut ausgebildete Mitarbeiter verdienen eine angemessene Bezahlung, und auch der öffentliche Dienst steht im Wettbewerb um die Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt. Hinzu kommt, dass gerade in den Städten und Gemeinden, wo man noch am engsten mit den Mitbürgern zusammenarbeitet, die Verdienstmöglichkeiten weitaus geringer sind als beispielsweise in den höheren Landesbehörden, die kaum noch Berührung zum normalen Leben haben.
Nach meiner beruflichen Wahrnehmung haben die Kommunen in den letzten 20 Jahren sehr gut in die fachliche Ausbildung investiert, und auch der technische Fortschritt im Bereich der EDV hat dazu geführt, dass die kommunale Verwaltung in Bezug auf Fachlichkeit und technischer Ausstattung heute so gut aufgestellt ist wie nie zuvor. Und doch werde ich nicht der Einzige sein, der wahrnimmt, dass nichts mehr vorangeht. Es wäre unehrlich, dafür temporäre Krisen wie die Corona-Pandemie oder den Ukraine-Krieg als Ursache vor das Loch zu schieben. Wir haben in den letzten Jahren eine schleichende Überbürokratisierung erlebt, in der die Zahl derer, die noch Entscheidungen mit gesunden Menschenverstand treffen möchten ständig schwindet während diejenige immer mehr werden, die da noch eine Stellungnahme und hier noch ein Gutachten fordern.
Einfache Entscheidungen dauern inzwischen Monate bis Jahre. Als Stadt wollten wir 2019 ein einfaches Datenkabel von einer Seite einer Bundesstraße auf die andere unterirdisch verlegen. Dafür haben wir das zuständige Straßenbauamt um Erlaubnis gefragt. Ohne dass damit irgendwelche Verpflichtungen oder bauliche Arbeiten für das Straßenbauamt verbunden gewesen wären, hat das "Ja" zu dieser Maßnahme 16 Monate und mehrere Nachfragen unsererseits gedauert. Für den geplanten Radweg von Kaltennordheim nach Tann haben wir die zuständigen Behörden am 01.03.2021 angeschrieben, um dafür eine Genehmigung zu erzielen. Bis heute ist unklar, wann eine solche ausgesprochen wird. Mehrfache Nachfragen zum Verfahrensstand werden von den Behörden gar nicht erst beantwortet. Bei verhältnismäßig einfachen Baumaßnahmen der Kommune nimmt das vorgeschaltete Fördermittel- und Genehmigungsverfahren zeitlich ein Vielfaches von der eigentlichen baulichen Realisierung ein. Den ersten Fördermittelantrag für die Sanierung des Kindergartens Klings (3 Gruppenräume, ein Sportraum, ein Sanitärbereich, 1 Büro, eine Teeküche) habe ich im November 2017 gestellt, im April 2023 wurde die Maßnahme baulich fertiggestellt. Zum flächendeckenden Breitbandausbau hat die Stadt Kaltennordheim im Sommer 2016 entsprechende Verträge abgeschlossen. Im nunmehr siebten Jahr deute sich langsam an, dass in den nächsten Monaten eine Realisierung erfolgen könnte. Der Bund hat ein Förderprogramm zur Schaffung von Energiemanagern aufgelegt, die sich in den Kommunen um die energetische Sanierung der kommunalen Gebäude kümmern sollen. Der Servicegedanke des Bundes war sogar so gut, dass man den Kommunen in Informationsveranstaltungen vorgefertigte Antragsformulare übergeben hat, in die man eigentlich nur noch seine Adresse eintragen muss. Das haben wir auch postwendend getan, da diese Maßnahme finanziell und ökologisch Sinn macht. Dass dies auch andere Kommunen in Deutschland machen werden, war klar und vom Bund auch gewollt. Dass man bis heute, 10 Monate später, immer noch nicht geprüft hat, ob wir unsere Anschrift richtig eingetragen haben, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Das Ganze ist kein Problem einzelner Sachbearbeiter. Im Gegenteil, die meisten Kollegen, auf die ich in der täglichen Arbeit treffe, sind hochmotiviert in den öffentlichen Dienst gekommen, um etwas für das Allgemeinwohl voranzubringen. Auch der „hohen“ Politik kann man allenfalls eine gewisse Ahnungslosigkeit vorwerfen, darüber, was bestimmte gesetzliche Entscheidungen in den Mühlen der Bürokratie verursachen. Die ministeriale Ebene hat sich hier ein Stück von den Vorgaben des Gesetzgebers entfernt und eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Man trifft zuweilen auf Behördenmitarbeiter, und wenn man diese nach den Rechtsgrundlagen ihrer Forderungen und Auflagen fragt, bekommt man die Antwort, dass es keine Rechtsgrundlage gibt, aber es eine „Empfehlung“ vom Ministerium sei.
Wenn jemand behauptet, dass sich die öffentliche Verwaltung zu 90 % mit sich selbst beschäftigt und sich zu 10 % um die Belange der Bürger kümmert, kann ich dem nicht widersprechen. Die verbeamteten und ausgebildeten Lehrer sitzen in den Amtsstuben des Bildungsministeriums oder der Schulämter, und unsere Kinder haben ständig Unterrichtsausfall, weil an den Schulen nicht genug Lehrer vorhanden sind.
Es ist nicht mehr viel übrig von der Handlungsfähigkeit in den Kommunen. Diese Form der Bürokratie zerstört damit die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Hier wären Mut, Kompetenz und Durchsetzungsstärke gefragt, die Bürokratie wieder auf ein angemessenes Maß zurückzufahren und Taubheit gegenüber den Bedenkenträgern, die für jeden Akt der bürokratischen Selbstbeschäftigung triftige Gründe und nicht abschätzbare negative Folgen bei deren Reduzierung ins Feld führen werden.
Leider ist hier aktuell niemand in Sicht, der diese Eigenschaften mitbringen würde.
Mit dem Tarifabschluss werden wir zurechtkommen. An der Bürokratie drohen wir jedoch zu scheitern.
Erik Thürmer
Bürgermeister