Johannes Kühn war ein freigiebiger Mensch. Er hat Gedichte nicht nur für die Ewigkeit und für die Publikation in seinen 25 Büchern geschrieben, sondern auch zu konkreten Anlässen, beispielsweise zum Geburtstag eines Freundes oder zum Jubiläum des Sportvereins in seinem Heimatdorf Hasborn-Dautweiler. Wenn man ihn freundlich bat, dann warf der Dichter mitunter auch spontan ein paar Verse aufs Papier und machte sie dem Fragenden zum Geschenk. Diese Gelegenheitsgedichte, deren Zahl unbekannt ist, sollen jetzt gesammelt und gesichtet werden. Die Johannes-Kühn-Gesellschaft ruft deshalb die Bevölkerung von Hasborn-Dautweiler und des ganzen Saarlands auf, ihr solche Gedichte anzuzeigen und in Kopie zu überlassen, damit man sich einen genauen Überblick über diese besondere Facette der lyrischen Produktion des verstorbenen Dichters verschaffen könne. Ansprechpartnerin ist die in Hasborn wohnende frühere Tholeyer Kulturbeauftragte Jutta Backes-Burr, die dem Vorstand der Johannes-Kühn-Gesellschaft angehört und dort für solche Fragen zuständig ist.
„Wir haben den Eindruck, dass in der Bevölkerung von Hasborn-Dautweiler, aber auch im ganzen Saarland und darüber hinaus noch eine Menge Gedichte von Johannes Kühn existieren, von denen niemand außer den vom Dichter selbst Beschenkten eine Ahnung hat“, erklärte Jutta Backes-Burr in einer Pressemitteilung der Gesellschaft. „Wir möchten niemandem etwas abnehmen, sondern nur wissen, was es alles gibt.“ Es bleibe jeder und jedem Einzelnen überlassen, ob und in welcher Weise er oder sie den Besitz solcher Gedichte bekannt machen und sie für eine denkbare spätere Veröffentlichung zur Verfügung stellen möchte. „Wir werden die Privatsphäre aller Gebenden strikt achten und bitten nur darum, eine Fotokopie der betreffenden Verse machen und die Umstände ihrer Entstehung protokollarisch festhalten zu dürfen“, sagte das Vorstandsmitglied weiter. „In jedem Fall bleiben die Gedichte im Besitz des Gebers oder der Geberin.“
Jutta Backes-Burr wies zugleich darauf hin, dass diese Freigiebigkeit im Umgang mit seinen schöpferischen Erzeugnissen „ein ganz besonderer Charakterzug“ des am 3. Oktober 2023 verstorbenen Dichters gewesen sei. Es zeichne ihn auch aus, dass er jeden Tag mindestens drei Gedichte verfasst habe, im Ganzen mehr als 30.000, so weit bekannt. Die allermeisten davon seien bisher unveröffentlicht. Hier tue sich für die Experten, die das literarische Erbe von Johannes Kühn erforschten, ein weites Feld auf. Auch die Gelegenheitsgedichte könnten in der Zukunft für die Forschung von großem Interesse sein, deshalb müssten sie so bald wie möglich erfasst werden, sagte Jutta Backes-Burr weiter.
Johannes Kühn hatte sich zu Lebzeiten zu dieser spezifischen Art seiner Produktion stets bekannt und erklärt: „Ich schreibe für alle, und sehr leicht.“ Er habe „eine Genugtuung“ empfunden und es als einen Akt der Anerkennung betrachtet, als Frauen aus dem Dorf oder auch die Hasborner Feuerwehr sowie das Rote Kreuz und der Sportverein ihn zu besonderen Anlässen um ein Gedicht gebeten hätten. „Da muss man auch Gedichte schreiben, die die verstehen“, sagte er in einem Interview mit dem Journalisten Klaus Brill, das 2009 in dem Magazin „Der Dichter aus dem Dorf“ in der Edition Schaumberg (Alsweiler) erschien. Auch Goethe habe solche Carmina verfasst, erklärte er. „Es gibt ja einen ganzen dicken Band dieser Gedichte, zur Hochzeit von Prinzessin Sowieso oder zum Geburtstag... und wenn Goethe das nicht anstößig empfand, empfinde ich das auch nicht anstößig.“
Alle in Frage kommenden Personen werden gebeten, sich bei der Johannes-Kühn-Gesellschaft über die Web-Adresse kontakt@johannes-kuehn.de oder direkt bei Jutta Backes-Burr zu melden. Sie ist erreichbar unter der Adresse Waldstr. 32, 66636 Tholey-Hasborn oder über Telefon 06853-7877. Vertraulichkeit wird zugesichert.
Auszug aus dem Interview von 2009
Sie schreiben für alle?
Ja, ich schreibe für alle, und sehr leicht.
Sie wollen auch, dass die Leute aus Hasborn die Gedichte verstehen?
Ja, ja, jedenfalls einige, die sich damit beschäftigen wollen.
Und auch Leute, die keine höhere Schulbildung haben?
Ja. Ja.
Es gibt ja auch Leute in Hasborn, die sind auf Sie zugekommen und haben gesagt: schreib mir mal ein Gedicht zum Geburtstag.
Hab ich gemacht. Habe ich gemacht. Ich hab für Frauen, die etwa gleichaltrig sind und die 70 und 75 geworden sind, solche Gedichte geschrieben, aber ich habe sie gereimt. Und das sind keine besonders guten Gedichte, aber man kann sie verstehen. Die Leute sind nicht abgeschreckt durch die Verrätselungen und die Besonderheiten, die man in der modernen Lyrik ja loben kann und annehmen kann und die erfreuen, aber ich mache das nicht.
Sie finden Verrätselungen nicht gut?
Es kann schon mal ne Verrätselung sein, aber als stereoptype Stilanwendung nicht.
Also Gedichte müssen klar sein?
Ja, für mich jedenfalls.
Es hat auch Vereine gegeben in Hasborn, die Sie gebeten haben, zu Jubiläen ein Gedicht zu schreiben.
Ja, das ist das Rote Kreuz, und das ist die Feuerwehr, das ist der Sportverein. Da muss man auch Gedichte schreiben, die die verstehen.
Was haben Sie empfunden, als die zu Ihnen gekommen sind?
Ja, also eine Genugtuung. Ich habe ja gesagt: man hat erzählt, dass ich schreiben würde, um den Titel Dichter zu erwerben. Da schien es mir, als hätte ich den Titel Dichter schon erworben. (Lächelt).
Das war ja eine Anerkennung.
Ja, das unbedingt, unbedingt.
Es gibt sicher Dichter, die sagen würden: die sind wohl verrückt geworden, ich mach doch hier kein Gedicht zum Feuerwehrfest.
Ja, das ist wahr. Das ist wahr.
Aber Sie denken so nicht?
Nee, ne, ne, ne, nee.
Warum?
Also, Goethe hat Carmina gedichtet. Goethe hat zu Festen gedichtet, als Junge schon, und hat das später auch gemacht in Weimar. Es gibt ja einen ganzen dicken Band dieser Gedichte, zur Hochzeit von Prinzessin Sowieso oder zum Geburtstag... und wenn Goethe das nicht anstößig empfand, empfinde ich das auch nicht anstößig. Nur, es ist so, ich schreibe die Gedichte auch mit einem Lob und mit einer Anerkennung dessen, was die Person angeht und was sie leistet, was sie macht, dass sie drei, vier Kinder hat oder nur zwei oder nur eins, aber von großen Festen kann man hier ja auch nicht ausgehen. So sind die Gedichte alle in einem Maß des Verträglichen gehalten.
Also was Goethe für Weimar konnte, das können Sie für Hasborn auch?
Ja, aber nicht so gut. Aber ich kann es.
*
Quelle: Johannes Kühn – Der Dichter aus dem Dorf, Edition Schaumberg, Alsweiler, 2009, S. 50 f.