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Stadtkurier Neuhaus
Ausgabe 3/2024
2. Nichtamtlicher Teil
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2.1. Nichtamtlicher Bekanntmachungen der Stadt Neuhaus am Rennweg

Diese Chronik wurde vom jeweiligen Lehrer der Schule des Ortes geführt.

1922

Januar

Möge dieses Jahr dem deutschen Vaterland Ruhe im Innern und namentlich einen Aufstieg in wirtschaftlicher Hinsicht bringen. Die Teuerung hält an. Die Arbeiter in der Porzellanfabrik haben volle Beschäftigung und guten Verdienst. Ein Fortbildungsschüler verdient wöchentlich so viel wie ihr Lehrer. Auch die Glasindustrie zeigt flotten Geschäftsgang. Man merkt es aber auch den Glasbläsern an, denn die Papierfetzen „fliegen“ nur so. Verschiedene Häuser wurden in Steinheid im Vorjahre fertig gestellt. Sollte der flotte Geschäftsgang nicht etwa eine Scheinblüte sein? Fast befürchte ich es. Der Dollar steigt, neues Papiergeld flutet durchs Land, aber wir werden mit jeder Lohn- u Gehaltserhöhung ärmer. Wir wollen es nicht merken, wir haben ja auch keine Zeit dazu vor lauter Vergnügungen u. sonstigen Veranstaltungen. Aber die Ernüchterung kommt!

Das Postauto muss seinen Betrieb einstellen, da der Schnee zu hoch liegt. Die Schneeschuhbahn wird auch von der Schule ausgenutzt. Wir haben schon 2 Nachmittage anstatt Unterricht den Schneeschuhsport ausgeübt.

März

Der Zimmer pfeift sein Frühlingslied auf dem Saar; die Lerche trillert ihr Liedchen im Sonnenschein. Herrliche Mondscheinnächte, durch die das frohe Jodeln der rodelnden Jugend vom Mühlkopf erklingt.

09. Mai

Uhrmacher Saam - Themar bringt Uhrwerk (3 Zifferblätter am Turm) u. Glocke an. Als ein schmuckes Gebäude, eine Zierde des Dorfes, steht nun unsere Schule.

Juli

Der Monat Juli 1922 bildet einen Markstein in der Geschichte des Ortes. Schon der 2. Tag im Monat mag den Siegmundsburgern die Herzen höher schlagen lassen. Der Tag der Schuleinweihung. Die Julisonne sendet warme Strahlen, auf unsere Höhe herab. Die Schule, innen und außen mit Girlanden geschmückt, zieht schon heute Nachmittag ihre Siegmundsburger an. Im neuen Kleide nimmt sie sich stattlich aus. Das Glöcklein mahnt um ½ 2 Uhr zum letzten Mal. Vom kleinsten Mitbürger bis zum greisesten Gemeindeglied haben sie sich vor der Schule eingefunden. Noch mancher der „Alten“ hat die alte Schule 1870 mit geweiht.

August

Um die Wohnungsnot im Ort zu lindern, arbeitet man flott am Gemeindehaus, an der Fuchsenwand. Es wird ein vier Familienhaus. Noch im Entstehen begriffen, wirkt es sich als Schmerzenskind der Gemeinde aus. Man streitet sich schon um die Einziehenden Mieter. Die umgebildete Wohnungskommission mag ihres Amtes walten. Der Dollar klettert weiter. Jedes Kind kennt die Angst vor diesem amerikanischen Geld, denn es weiß, dass damit Anziehen des Preises verbunden ist. Selbst die ABC Schützen können mit Hunderten rechnen. Arme Kinder! Die Zeit kann nimmer fern sein! Die Hypothekenlasten, die auf vielen Häusern ruhen, werden abgetragen mit entwertetem Geld. So steht`s um Treu und Glauben. Und nichts kann dagegen getan werden!

September

Für die Fortführung der Chronik gilt von jetzt an Folgendes:

1.

Die Preise der Lebensmittel sprechen Bände.

2.

Die Sammlung des im Umlauf gesetzten neuen Geldes mag der Nachwelt erhalten bleiben zur Erinnerung an eine Zeit größter Not unseres leiben Vaterlandes.

3.

Nur interessante Nachrichten aus dem Dorfe und dem Reich werden aufgenommen.

November

Es kosten am:

12.11.

20.11.

25.11.

1 Brot

95,- M

95,- M

95,- M

1 Pfd. Mehl

150, M

240,- M

250,- M

1 Pfd. Schweinefleisch

600,- M

650,- M

800,-M

1 Pfd. Margarine

650,- M

1000,- M

1200,- M

Der Fabrikbetrieb geht flott, alle Preis steigen, die Löhne werden in 1000, 10.000, 20.000 Mark-Scheinen ausgezahlt.

Dezember

Was werden wir noch erleben? Das Jahr 1922 liegt hinter uns. Es hat uns keinen Fortschritt gebracht, sondern tiefer in den Sumpf geführt. Wucher und Schieberei wurden groß gezüchtet infolge der traurigen Geldverhältnisse. Das schöne Wort Inflation kennzeichnet die ganze traurige Lage, denn es ist wirklich eine Entwertung und Umwertung des Bestehenden eingetreten.

1923

April

In der Nacht vom 3. zum 4. April steht das letzte Haus hinter dem Märterlein in Flammen. Ein Teil der Gebäudes kann gerettet werden. Entstehungsursache unbekannt. Besitzer ist Oskar Sollmann

Mai

Der 1. Mai muss laut ministeriellen Erlass festlich begangen werden. Im Rosenbaumschen Saal findet die Feier statt, an der auch der Gesangverein mitwirkte.

Der Gesangverein erringt auf dem Sängerfest in Crock am 27.5. mit dem Lied „Wach auf du träumender Tannenwald“, den zweiten Preis.

Juni

Am Gemeindehaus wird weiter gearbeitet. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich täglich. Am 3. Juni wurde der Dollar mit 80.000 Mark gehandelt, am 18. Juni schon mit 170.000 Papiermark. Ein drittes Gespenst verfolgt uns immer mehr, es ist die Erwerbslosigkeit. In manchen Zweigen der Industrie spukte es ja schon seit Kriegsende 1918. Doch Glasbläser und Porzellanarbeiter hatten in ihrem Beruf wohl nicht damit gerechnet. Der Bargeldmangel, der durch die sprunghafte Entwertung der Mark einsetzt, zeitig lächerlich Blüten. Scheck - Konten werden an den kleinsten Sparkassen errichtet, und man hat 3 oder 4 Wege zur Bank, ehe man eine lächerlich geringe Summe an Bargeld abheben kann. Der größte Teil des Geldes ist inzwischen wieder verfallen. ½ Pfd. Fleisch, ja oft die Zeche im Wirtshaus wird mit Scheck bezahlt. Ob dafür auch Deckung vorhanden ist, danach fragt niemand. Raffinierte Menschen nutzen diesen Zustand aus. Sie borgen, kaufen Autos, bauen Häuser, um es später, wenn der Dollar weiter gestiegen ist, ihre Schulden mit entwertetem Geld zu decken. Der ehrliche Kleinkrämer geht allmählich zugrunde. In den hiesigen Läden sieht man leere Regale, denn mit den längst entwerteten Einnahmen kann der Kaufmann nur einen Bruchteil seines Bestandes an Waren auffüllen Die größten Geschäfte der Stadt öffnen die Läden nur 2 bis 3 Stunden täglich. Die Waren steigen doch stündlich. Warum sollten sie deshalb auch nicht zurückgehalten werden. Trostlos! Trostlos!

Juli

Die Erwerbslosigkeit in der Limbacher Fabrik nimmt zu. Fast alle Former sind beschäftigungslos. Der Staat greift ein durch Unterstützungsmittel, die allwöchentlich gezahlt wird. Millionenscheine sind im Verkehr. Jeder ist „Millionär“ - der Traum vieler ist Wahrheit geworden - leider nur zahlenmäßig. Der Dollar klettert höher. Werden wir noch mit Milliarden rechnen?

August

Am 15.08. abends gegen 6 Uhr schlägt der Blitz in die voll Heu geladene Forstscheune und äschert sie bis auf die Steinmauern ein. Das Vieh der beiden Förster gerettet.

September

Wer seinen Verdienst gleich wieder in der gleichen Stunde umsetzen kann, gewinnt viel, denn die Preise ändern sich täglich zwei bis drei Mal. Jeder Geschäftsmann lauert auf die neuesten Kurse der Berliner Börse, um sofort seine Preise danach zu machen. Der Lohn wird in der Limbacher Fabrik wöchentlich zweimal gezahlt. Die Beamten erhalten wöchentlich Nachzahlungen. Nur bekommen wir das Geld nicht sofort von der Bank, weil es an Zahlungsmitteln handelt. Man kauft aber, was man erhalten kann, um sich vor Entwertung zu schützen. Ich habe z.B. Streichhölzer, auf mindestens einem Jahr gehortet. HAMSTERN nennt das der Volksmund. Die Nachwelt wird lachen und das mit Recht. Doch wie soll´s noch werden? Zu den verrückten Zeiten noch ein krasses Beispiel: am 15. September kostete 1 Pfd. Rindfleisch in Siegmundsburg 20 Millionen. In Effelder 6 Millionen, in Katzhütte 25 Millionen und in Steinach 12 Millionen. In Meng-Hämmern 8, 12 und 15 Millionen. Der Wald ist natürlich mit seinen Preisen „auf der hohen Schule“.

Oktober

Die wirtschaftliche Lage wird immer unerträglicher. Das Reich ist nicht mehr imstande den Verbilligungszuschuss zum Brot zu leisten. Seit Oktober gibt es nun keine Brotmarken mehr. Wohl mancher Deutsche kann sich kein Brot mehr kaufen. Die Unterernährung unter den Kindern, namentlich in den Städten, nimmt im erschreckenden Maße zu. Täglich berichtet die Presse, dass viele Rentner, die nicht mehr arbeitsfähig sind, vor Hunger sterben, wenn sie nicht freiwillig ihrem Leben ein Ende bereiten. Und was erfahren wir nicht? Speisungsküchen werden von Ländern, Gemeinden und namentlich von den amerikanischen Quäkern errichtet, um den Bedürftigsten zu helfen. Es ist jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch unsere Schule verabreicht 40 Schulkindern täglich ein warmes Frühstück, bestehen aus 1 Tasse Kakao und einem Brötchen. Die Quäkerspeisung wird diese Einrichtung allgemein genannt.

November

Im Moment scheint die „Inflation“ zum Stillstand gekommen zu sein. Hatte man es vielleicht darauf angelegt, 1 Billion = 1 deutsche Goldmark zu setzen? Die Rentenmark, eine Schöpfung des früheren Staatssekretärs Helferich, wird eingeführt. Noch bringt man dem neuen Geld, das auf dem deutschen Privatbesitz basiert, wenig Vertrauen entgegen. Doch scheinen die schon vielfach erwogenen Stabilisierungen der Mark durch die Schöpfung der deutschen Rentenbank die glücklichste Lösung gefunden zu haben. Wann wird nun die Preisregulierung eintreten, da der Spekulationswut nun durch die Rentenmark ein Riegel vorgeschoben worden ist. Hoffentlich bald, denn die ganze deutsche Wirtschaft ist am Ende ihrer Kraft.

Dezember

Es kosten am 3.12.23 (Milliarden = Mark)

1 Brot

700 Ma

= 0,90M

1 Pfd. Rindfleisch

3 Billion

= 3 M

1 Pfd. gute Butter

2 Billion

= 2 M

1 Ei

100 Ma

= 0,10 M

Allmählich bricht sich die Rechnung mit Mark und Pfennig Bahn. Die Preise halten die Höhe, ja ziehen vor dem Fest noch an. Diese Übersicht zeigt uns, dass wir doch eine ganz verrückte Wirtschaftslage haben. Man betrachte nur die Fleischpreise in ihrer ganzen Aufwärtsbewegung. Einen Lichtblick hat uns die Weihnacht gebracht: Stillstand der Inflation, Stabilisierung!

Die Arbeitslosigkeit ist immer noch sehr schlimm, denn die Limbacher Porzellanfabrik hat äußerst schlechten Geschäftsgang. Die vor Jahren eingerichtete Dreherei für Gebrauchsporzellan scheint allmählich einzuschlafen. So endet das Jahr 1923 wohl als das schlimmste Jahr, das bis jetzt die Chronik verzeichnet. Groß sind die Wunden. die die Inflation der deutschen Wirtschaft geschlagen! Groß ist aber auch die Menge der verbrauchten Nervenkraft, die dem deutschen Volk geraubt wurde durch die aufreibenden Zeiten der Geldentwertung! Arm sind wir geworden an materiellen Gütern, und leider haben auch weite Volkskreise eingebüßt an seelischer Kraft! Schiebertum und unnützes Parteigezänk konnten im Elend unseres lieben Vaterlandes Wurzeln schlagen, und ihre „Hydrahäupter“ frech erheben. Wann naht die Rettung unseres Volkes????

Rolf Kirchner

Natur- und Heimatfreunde e.V. Siegmundsburg