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Uhlstädt-Kirchhaseler Anzeiger
Ausgabe 7/2024
Leserpost
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Erinnerungen an meinen Großvater Pfarrer Martin Kralisch und seine Familie : II. Kriegserlebnisse zwischen Sewastopol, Pleskau, Partschefeld und Uhlstädt ( 1. Gottfried und Hans Kralisch )

II. Kriegserlebnisse zwischen Sewastopol, Pleskau, Partschefeld und Uhlstädt ( 1. Gottfried und Hans Kralisch )

In diesen Julitagen, vor so ziemlich exakt 80 Jahren wurde der älteste Sohn meines Großvaters Martin Kralisch aus Uhlstädt - Gottfried Kralisch - als an der Ostfront vermißt gemeldet - irgendwo zwischen Wilna und Dünaburg.

Im Vergleich zu seinen jüngeren Brüdern Hans und Konrad war er als Erster zum Militär einberufen worden und hatte schon den Frankreichfeldzug mitgemacht, bevor es ihn dann an die (Süd-) Ostfront verschlug - erst über Lemberg,Kiew bis schließlich auf die Krim (Sewastopol), später dann deutlich nördlicher. Als VB (vorgeschobener Beobachter) eines Artillerie-Regiments mußte er auch bei Temperaturen von bis jenseits von minus 30 Grad länger als (theoretisch) aushaltbar in Deckung bleiben und hat dies mit verschiedenen gesundheitlichen Schäden (u.a. erfrorenen Zehen) bezahlen müssen. Seine - mir vorliegenden - Briefe an die Eltern und seine Schwester Renate (meine Mutter) belegen sowohl von Inhalt als auch Tonalität her insgesamt eine beeindruckende Gelassenheit, ja fast Indolenz gegenüber uns heutigen Zeitgenossen fast unvorstellbaren Härten des Frontalltags. Phasen schwerster Kämpfe und längerer „Ruhe“ werden nur kurz erwähnt, während die nicht-kampfspezifischen Widrigkeiten des Soldatenalltags breiten Raum einnehmen. Von dem Vielen, was es diesbezüglich zu berichten gäbe, sollen nur erwähnt werden : Mückenplage in den großen Sumpfgebieten, Dauerdurchnässung der Kleidung nach mehrtägigen Dauerregenmärschen, 14-tägiges Nicht-Waschen/Rasieren, fehlende Wechselwäsche, Liegen und Übernachten in Erdbunkern bei Regen, aber auch bei zweistelligem Minusgraden, situativ auch mal mit einer als Ofen umgebauten Milchkanne als Wärmespender, „Spaziergang“ ins besetzte Sewastopol zwecks Bad und Entlausung.

All dies war auch Soldatenalltag auf der anderen Seite der Front, wobei der Literatur zu entnehmen ist, dass „die Russen“ oder „DER RUSSE“

(Landserausdruck mit einem Allzeit-Hauch von Respekt vor dem Gegner) mit diesen Verhältnissen - insbesonders den Schlammperioden - besser zurechtkamen als die Invasoren. Aber immerhin funktionierte das Postsystem auf deutscher Seite - schwankend, aber letztendlich mit großen Verzögerungen - ausreichend gut, wovon die Erwähnung von Brief- und Päckcheninhalten Zeugnis geben. Stimmungsvolle Höhepunkte waren - neben einigen Urlauben in Uhlstädt und Tangermünde - zwei Genesungsaufenthalte - einer auf der Krim, ein weiterer in einem Schloß bei Reval mit Küstenblick und Ausgangs-Genuß von Architektur und „Zivilleben“ der damals (1943) noch nicht bombardierten alten Hansestadt, die nun schon seit mehreren Jahrhunderten zum russischen bzw. Sowjet-Imperium gehörte.

Auf einer Rückreise in einem völlig überfüllten Urlauberzug von Berlin Stettiner Bahnhof nach Tauroggen (mehr als 10 Stunden im Gang Stehen oder auf einem abgestellten Koffer sitzend) war dann auch einmal ein (genehmigter!) Umweg an die Front über Pleskau möglich - dem Standort vom drei Jahre jüngeren Bruder Hans. Dessen Dienst in einer Stabs- Nachrichtenzentrale als Fernmeldesoldat war - jedenfalls aus Sicht seines Bruders Gottfried - das ganze Gegenteil des eigenen „Frontschweindaseins“, wurde aber wegen der Kasernenhof-Atmosphäre am Standort Pleskau vom besuchenden Bruder (mit gewissen „Gewohnheitsrechten“ und „Freiheitsgraden“ eines erfahrenen Frontkämpfers) nicht automatisch im Vergleich zum eigenen Dasein als relativ zwingend attraktiv empfunden.

Hans jedenfalls konnte - nach Aussage seiner Schwester Renate - jeglichem Kommißdasein im allgemeinen oder speziell als Soldat und damit Befehlsempfänger einer Invasionsarmee tief in einem fremden Land nie irgendeine wenigstens mental halbwegs erträgliche Seite abgewinnen. Es ist überliefert, daß er beim Urlaub in Uhlstädt als erstes seine Uniform in irgendeine Ecke schmiß. Über Ursachen seiner Verzweiflung wissen wir fast nichts und Spekulationen ohne ein Mindestmaß an persönlichem Hintergrundwissen verbieten sich. Einzige Ausnahme, weil mir aus meinem persönlichen Erfahrungen als Nachrichtensoldat bei der NVA der DDR plausibel : Der Dienst in einer Nachrichtenzentrale (Gesprächsvermittlung) schafft - naheliegend trotz Strafandrohung - mannigfaltige Möglichkeiten, über aktuelle Fakten, aber auch Perspektiven des Frontabschnittes oder gar des Krieges besser informiert zu sein als mancher Frontoffizier „draußen“ (vom einfachen Frontsoldaten mal ganz abgesehen…).

Leider stehen mir über die Umstände des Todes von Hans Kralisch weit mehr Informationen zur Verfügung als über sein Gefangenendasein bzw. Soldatendasein davor. Über seinen Tod (am 24.5.1947 in einem Krankenhaus in Riga) erfuhren seine Eltern durch den Bericht eines entlassenen Kameraden („bei der Arbeit vor Hunger vom Gerüst gefallen, danach noch einige Tage bis zum Tod in einem Rigaer Krankenhaus“). So tragisch dies - aus ganz persönlicher bzw. familiärer Sicht - sein mag : In ihrem durch Kampfhandlungen verwüsteten und ausgeplünderten Land hungerten auch bzw. vor allem die „Russen“ - Soldaten wie Zivilisten. Und wenn auch im Allgemeinen der Umgang mit den deutschen Kriegsgefangenen - vorsichtig ausgedrückt - wenig Stoff zu irgendwelchen Ruhmeskapiteln hergibt, so gilt das - in noch viel umfangreicherem, ja insgesamt gesehen noch schrecklicherem Maße - für die z.B. Hunderttausende von sowjetischen Kriegsgefangenen, die allein nach einer Schlacht (z.B. bei Kiew vom Bruder Gottfried auch persönlich miterlebt) „anfielen“. Für sie gab es nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entkamen sie aus irgendeinem Grunde der Nazi-Vernichtungsmaschinerie und gelangten zurück in die Sowjet-„Freiheit“, so wurden sie entsprechend einer Stalinschen Doktrin routinemäßig überwiegend erstmal als Feiglinge, Verräter, potentielle Spione….üblicherweise also als Verbrecher behandelt.

Der lebenslangen Unruhe und Betroffenheit meiner Mutter habe ich es zu verdanken, daß ich schon zu DDR-Zeiten Versuche unternahm, eine grundsätzlich ja mögliche Grabstätte von Hans Kralisch ausfindig zu machen.

Gelegenheit dazu boten eine Dienstreise nach Riga sowie eine Schiffsreise nach Leningrad, wo diverse Hansestädte (Danzig/Gdansk, Riga, Reval/Tallin) Zwischenstationen waren. Bei der Dienstreise sprach ich auf dem Weg vom Tagungsort Jurmala in einer Vorortbahn nach Riga eine „erstbeste“ Russin an, die mein solides DDR-Russisch dahingehend interpretierte, daß ich wohl ein Russe aus dem jahrzehntelang ja russifizierten Lettland sei. Sie selbst war als „echte“ Russin nach der Einnahme von Sewastopol als Zwangsarbeiterin nach Hamburg gelangt und hier - entgegen meinen Schulkenntnissen und vermutlich eher eine Ausnahme - „erstaunlich“ gut behandelt worden. Sie war jedenfalls hochmotiviert, mir zu helfen. Leider haben ihre zahlreich initiierten Aktivitäten, sogar - wie sie mir versicherte - „unter Nutzung jüdischer Untergrund-Kontakte“ - keinerlei (zusätzliches) Licht ins Dunkel bringen können. Aber wenigstens einige Lichtblicke, meine historischen Interessen berührend: Während sie telefonierte, verpflichtete sie ihren Sohn zu einem Stadtrundgang mit mir (…natürlich in Russisch ). Doch als ich mal wieder innerlich über meine unzureichenden Russisch-Sprachfähigkeiten fluchte - im „Gespräch“ vokabelsuchend unter einem Torbogen eines alten Patrizierhauses stehend - richtete sich wohl mein Blick quasi hilfesuchend gen Himmel: Und da stand geschrieben - gut verständlich, weil deutsch ….“Mit Gott tritt aus und ein, so wirst Du gesegnet sein!“

Dieser Segensspruch bewahrheitete sich dann - gottlob! - auf meiner zweiten Erkundungstour in Riga auf Spurensuche Hans Kralisch betreffend: Dank ausreichender Vorabinformationen - woher ist mir nicht mehr erinnerlich - betrat ich beim zeitlich knapp bemessenen Landgang in Riga im Stadtzentrum die richtige, stadtauswärts fahrende Straßenbahn, deren Linienführung den mir vorbezeichneten, großen städtischen Friedhof berührte. Wegen meines riesigen Gladiolenstraußes (…mehr als vierzig waren nicht zu erlangen…) war zumindestens anwesenden Vertreter(inne)n der Erlebnisgeneration das Ziel meiner „Reise“ ziemlich schnell klar und mein Vorhaben wurde nicht nur durch neugierig-interessierte Blicke, sondern auch durch wohlwollend-klare Hinweise hinsichtlich eines Ausstiegs genau vis-a-vis des großen Friedhofportals freundlich - (mitfühlend?) unterstützt.

Im (DDR-) Leben verkam die allzeit gepriesene deutsch-sowjetische Freundschaft oft zu einer hohlen Phrase. Leider… Hier, an einer Straßenbahnhaltestelle an einem Friedhof in Riga, war sie - im Angesicht des Todes - offensichtlich nicht totzukriegen.

Immerhin!

Der riesige Friedhof, der in längst vergangenen Zeiten wohl mal ein deutscher gewesen sein könnte, entpuppte sich in all seine Weite als ein riesiger, grüner Landschaftspark, an dessen Zwischenmauern noch unzählige Grabplatten mit z.T. noch erstaunlich gut erhaltenen deutschen Inschriften zu bewundern waren.

Nur unweit des Eingangs gab es links ein ganzes Gräberfeld - Einzelgräber (!), aber nur mit Nummern versehen.

Das war beeindruckend und schockierend zugleich: Auf der Suche nach dem Grab meines Onkels hatte ich nicht (s)eines, zwei, oder einige mehr gefunden, sondern über 400!

Das waren offensichtlich „nur“ jene Toten, die im benachbarten Krankenhaus gestorben waren. Wie groß die Zahl derer ist, die der Tod unmittelbar im Arbeitslager ereilte, wird man wohl nie erfahren….

Da blieb mir dann nur, wenigstens auf jedes Zehnte jener Gräber eine Blume niederzulegen und die Mischung aus Akkuratesse und Ohnmacht wenigstens in einigen Fotos festzuhalten.

Irgendwann sind die von mir noch besuchten Gräber dann eingeebnet worden. Auf dem neu errichteten Soldatenfriedhof in Riga-Berberiki gibt es immerhin ein riesiges Stelenfeld mit unzähligen Namen. Einer davon ist Hans-Joachim Kralisch. Auch seine, mir vorliegende Krankenakte aus Riga trägt akkurat seinen Namen.

Soviel materialisiertes Andenken ist seinem Bruder Gottfried nicht beschieden. Vermutlich Opfer eines sowjetischen Sturmangriffs oder - als VB - eines sowjetischen Scharfschützen, hat er - im „günstigsten“ Falle - einen hoffentlich schnellen Tod gefunden, aber - extrem wahrscheinlich - kein Grab.

Wie hieß es doch bei Bob Dylan in seinem Lied „Masters of War“:

“unnown and unnamed“…

Irgendwo zwischen Dünaburg/Daugavpils und Wilna/Vilnius…..

Autor:

Dr. Reinhard Amlacher

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