Schon zwei Jahre praktiziert Ulrich Hottenbacher in einer Gartenlaube an der Kölner Straße. Ihm zur Seite gehen Gabriele Seidel (l.) und Kerstin Lamberty.
BAD NEUENAHR. TW. In der Nacht der Flutkatastrophe wurden auch zahlreiche Arztpraxen im Ahrtal, vor allem in Bad Neuenahr-Ahrweiler zerstört. Viele Ärzte wussten nicht, wohin. Für Allgemeinmediziner Ulrich Hottenbacher fand sich eine provisorische Lösung, die auch 22 Monate nach der Flut immer noch seine Arbeitsstätte ist: er tauschte seine schicke Praxis im ehemaligen Hotel Westend gegen eine Gartenlaube in einem Hinterhof an der Kölner Straße in Bad Neuenahr. Dort wird seither besonders viel über die Flut und ihre Folgen gesprochen.
Die Praxis muss man erst einmal finden. Zwischen zwei Häusern geht es durch einen gut einen Meter breiten Gang in einen Hof. Am Tor sind mit Kabelbindern Praxisschild und Öffnungszeiten angebracht. Im Hof steht besagtes Gartenhaus, rund 70 Quadratmeter Fläche stehen dem Arzt dort in drei Räumen zur Verfügung. Wer den „Doc“, wie ihn viele Freunde nennen, gefunden hat, betritt den mittleren Raum und wird von den Mitarbeiterinnen Gabriele Seidel oder Kerstin Lamberty empfangen. Auf nicht einmal 20 Quadratmetern sind hier Empfang, Anmeldung, Garderobe und Wartezimmer vereint. Bei gutem Wetter warten die Patienten vor der Türe, wo Gartenstühle zum Verweile einladen. Der Besitzer hat ein kleines Vordach angebracht, damit niemand im Regen sitzen muss.
Nach links geht es ins Behandlungszimmer, das vor der Flut einmal als Schlafzimmer gedacht war, denn hier wollte der Laubenbesitzer des kleinen Anwesens selbst heimisch werden und war mit dem Ausbau beschäftigt. Hier empfängt nun der „Doc“ die Patienten. Er hat immerhin sein Ultraschallgerät heil aus der Flut retten können. An den Wänden stehen Kartons und warten darauf, ausgepackt zu werden. Die Heizung funktionierte zum Start noch nicht, Radiatoren sorgten für die nötige Wärme. „Wir können hier natürlich nur ein stark reduziertes Programm anbieten, ohne Langzeitblutdruckmessung, ohne Belastungs-EKG, ohne Reizstrombehandlung und ohne Lungenfunktionstest. Zudem steht uns kein eigener infusionsraum zur Verfügung“, so Hottenbacher zu den Einschränkungen. Immerhin gibt es ein Labor im dritten Praxisraum. Hier läuft aber auch unentwegt die Kaffeemaschine.
Für den Mediziner gab es keine Alternative, aber er hat sich dran gewöhnt. „Ein Patient und Freund kam nach der Flut, bot mir die Räume an und meinte im tiefsten rheinländisch: Ohse Doc muss doch wigger maache“, erzählt Hottenbacher. Er habe sich die Gartenlaube dann angesehen und sich auf dem Absatz rumgedreht, denn eine Vorstellung, wie dort eine Praxis entstehen sollte, hatte er beim besten Willen nicht. Ein befreundeter Arzt hatte Zimmer seiner großräumigen Praxis in Aussicht gestellt. Aber er zog das Angebot zurück, denn Handwerker hatten dort einen Wasserschaden verursacht. Also blieb die Gartenlaube.
Anfang September 2021, sechs Wochen nach der Katastrophe, öffnete die Hinterhof-Praxis ihre Pforten. Für die meisten der rund 800 Patienten im Quartal ein Segen Denn bis dahin war es mit der medizinischen Versorgung in der Kreisstadt schwierig. Hottenbacher erinnert sich: „Es gab Notfallpraxen, Kollegen arbeiteten aus Containern. Nahe der Post betrieb ein Kollege mittels Notstromaggregat einen Computer und bot den umliegenden Ärzten den Ausdruck von Rezepten und Überweisungen an. Sehr viel Unterstützung gab es zudem von der Grafschafter Gemeinschaftspraxis, vor der sich in den ersten Wochen oft lange Schlangen bildeten.“ Die Reaktionen auf sein Provisorium hätten unterschiedlicher nicht sein können, sagt Ulrich Hottenbacher. Erst vor wenigen Tagen meinte ein Patient: „Wie können sie hier nur arbeiten, in dieser Bruchbude?“ Andere meinten eher scherzhaft, die Räumlichkeiten würden zu Hottenbacher passen, wo er doch auch gerne Naturheilkunde anbiete.
In erster Linie aber dürfte die Umgebung die Menschen animieren, noch stärker über die Flut und ihre Folgen zu reden, wie das vielleicht andernorts der Fall ist. Denn in der Gartenlaube finden sie einen ebenfalls Flutbetroffenen vor. Da kann der Arztbesuch schnell zur Seelsorge werden. „Die Patienten reden viel über ihre Erlebnisse. Viele wurden und werden im Traumahilfezentrum behandelt. Sie bekommen die Bilder nicht aus dem Kopf, Bilder von Toten in den Autos. Hier sitzen Menschen, die kamen zwei Tage lang gar nicht aus dem Haus. Eine Patientin läuft bei jedem starken Regen an die Ahr, um zu schauen, ob sie wieder über die Ufer tritt. Etliche brauchen Psychopharmaka.“
Als das Schwierigste für die Menschen bezeichnet der Arzt das immer wieder neue Aufbringen der Geduld und die Kraft, immer wieder neu zu kämpfen. Hottenbacher sieht viele Menschen am Ende, erschöpft und ausgelaugt. „Und dann wurde hier was falsch gemacht und es wird da wieder ein Gutachten gefordert.“ Ihm selbst fehlt die Struktur im Wiederaufbau, er vermisst einen strukturellen und übergreifenden Hochwasserschutz und Konzepte hierfür: „Das einzige was man bisher machte, es wurde eine alte Brücke abgerissen. Die Menschen brauchen mehr Hoffnungszeichen.“