Der katholische Ortspfarrer Adam Drescher gründete mit zweiundachtzig Gräfendorfer den St. Johannis-Zweig-Verein. Der Zweck und das Ziel waren die Errichtung einer Schwesternstation für die Krankenpflege, Näh- und Handarbeitskurse sowie ein Kindergarten. Die Gründungsversammlung fand am 6. Januar 1913 im Gasthaus König statt. Vorrangiges Ziel war die Förderung des schnelleren Anwachsens des Stiftungskapitals der seit 1901 bestehenden Stiftung von Katharina Aul. Diese stiftete für den Vereinszweck 1.000 Mark.
Die Verhältnisse der Weimarer Zeit und der aufkommende Nationalsozialismus verhinderten eine schnelle Umsetzung, obwohl „für die hiesige, meist aus Kleinbauern und Tagelöhnern bestehende arme Bevölkerung eine fachkundige Kinder- und Krankenpflege sehr notwendig wäre“, meinte schon 1913 Pfarrer Adam Drescher.
1937 wird erstmals ein Kindergarten im Gemeindearchiv erwähnt. Es handelt sich dabei um einen Erntekindergarten der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, NSV.
1937 beschloss die Reichsregierung die Errichtung von Erntekindergärten. Die mit der Aufsicht betrauten Personen mussten fachlich und politisch geeignet sowie arischer Abstammung sein.
Zwei Jahre später, am 12.9.1939 schrieb die NSAP-Kreisleitung an alle Bürgermeister:
„Die Tatsache, dass die Frauen in dem augenblicklichen Kriegszustand mehr denn, je zu Arbeiten herangezogen, werden, die normalerweise von Männern zu verrichten sind, veranlasst uns in den Gemeinden, in welchen noch kein NSV-Kindergarten besteht, einen Notkindergarten zu errichten.
Der Gauleitung ist darüber Meldung zu erstatten.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Gräfendorf schon einen Erntekindergarten. Nach Archivunterlagen schloss die Gemeinde Gräfendorf am 1.6.1939, vertreten durch den Bürgermeister als Verleiher und die NS-Volkswohlfahrt e. V. vertreten durch den alleinvertretungsberechtigten Vorsitzenden, Hauptamtsleiter im Amt für Volkswohlfahrt Hilgenfeldt Gau Mainfranken, Kreis Lohr-Gemünden einen Leihvertrag.
Nach diesem Vertrag vermietete der Gastwirt Harth in Gräfendorf HsNr. 66 drei Zimmer“. Der Kindergarten war vom 1. Juni 1939 bis 31. Oktober 1939 geöffnet. Ein Mietzins wurde nicht vereinbart.
Ob und wie der Kindergarten jemals betrieben wurde, ist durch Unterlagen nicht belegt. Eine der ältesten Einwohnerinnen erinnerte sich jedoch an eine Kinderaufbewahrungseinrichtung sowie an eine „Tante Hilde“, vermutlich eine Helferin im NSV-Kindergarten. Ein indirekter Hinweis dazu enthält auch der Pressebericht zur Kindergarteneinweihung 1953. Der Bauleiter führte dazu aus: „
der Gedanke, einen Kindergarten zu bauen, ist nicht erst 1951 entstanden, sondern der Plan besteht bereits seit 1938. Der damalige Bürgermeister Harth hatte sich schon mit dem Gedanken beschäftigt und er stellte selbst ein Grundstück zur Verfügung. Im Jahr 1939, mit dem Kriegsbeginn zerschlug sich das Bauvorhaben“. Nach dem Einmarsch der Amerikaner wurden alle Erntekindergärten aufgelöst. In der sowjetischen Besatzungszone und der ihr folgende DDR bestanden die Erntekindergärten weiter.
© Das Foto ist ein Symbolbild aus dem Ida-Seele-Archiv, das wir mit freundlicher Genehmigung von Alfred Berger veröffentlichen. Dieser war Mitbegründer und Leiter des Archivs. Er arbeitete am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung in Osnabrück, nifbe. Recherche und Textzusammenstellung Johannes Sitter, Gräfendorf.