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Mitteilungsblatt der VG Gemünden a Main
Ausgabe 4/2024
Amtliche Bekanntmachungen
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Aus dem Archiv von Gräfendorf

© Das Foto ist ein Bildausschnitt aus dem Gemälde des Max von Austen und befindet sich im neuen Rathaus. Den Text und die Recherche stammen von Johannes Sitter unter der Mithilfe von Resi Kühnlein Schonderfeld und Daniela Kriebel, Gräfendorf.

Geschichten und Geschichte

Ortsgeschichte im 19. Jahrhundert

Sophie Klein - Die Armut und ihre Folgen

Nach dem Überqueren der Schondrabrücke in Gräfendorf sah man, wenn man vom Oberdorf kam, rechts am Ende der Brücke ein kleines, einfaches Anwesen. Seit 1660 standen dort verschiedene Häuser, die Eigentum der Grundherren von Gräfendorf waren, denen auch die erste Gräfendorfer Mühle gehörte. In diesem Anwesen wohnten meist Arbeiter der Mühle. Zum Anwesen gehörten 1,6 Hektar landwirtschaftliche Fläche, jedoch viel zu klein, um kinderreiche Familien zu ernähren. Um 1830 lebten in diesem Gehöft Johannes Klein (1801-1864) und seine Ehefrau Barbara geb. Gerlach (1809-1858). Johannes war protestantischer Religion. Auch nach der juliusspitälischen Rekatholisierung blieb er seinem Glauben treu. Barbaras Vorfahren kamen aus dem protestantischen Trübenbrunn. Die Familie Klein hatte sieben Kinder, was einer der Gründe war, warum sie vom Ufer der Schondra ins größere Anwesen 56 im Ried wechselten, dessen Eigentümer der protestantische thüngensche Baron in Zeitlofs war.

Die Angehörigen von Martin Luthers Lehre, die im Dorf die Protestanten genannt wurden, unterrichteten ihre Kinder in einer eigenen Schule, zu der der Baron einen Zuschuss gab und die übrigen Kosten über ein Schulgeld finanziert wurden. Für die Protestanten kam zu dieser Zeit ein gemeinsamer Unterricht mit den Katholiken nicht infrage. Diese protestantische Local-Schule besuchte auch Sophie Klein (1853-1882), die Jüngste aus der Familie. Fünf Jahre blieb sie dort, wurde im rechten Glauben unterwiesen, büffelte mit Martin Luthers „Kleinem Katechismus“ das Lesen und Schreiben und auch das kleine Einmaleins wurde gepaukt. Dann 1860, notiert Lehrer Ebenauer: „Ende, Klasse ausgetreten“. Der Anlass waren Sophies Vaters Gebrechen des Alters und sein Ableben 1864. Ab jetzt war sie Vollwaise. Niemand war mehr da, der das Schulgeld aufbringen konnte. Ihre Mutter wurde nur 49 Jahre und verließ die Erde schon 1858, als Sophie fünf Jahre alt war. Ihre älteren Schwestern hatten geheiratet, und Überfluss war auch in ihren Familien nicht vorhanden, mit dem sie ihre Schwester hätten versorgen können. Ihre Großeltern waren verstorben. Wo lebte fortan das elfjährige Waisenkind? Wer sorgte für sie? Das ist nirgends aufgeschrieben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie schon als junges Mädchen an einem anderen Ort als Dienstmagd arbeitete. Eine Zeit davon verbrachte Sophie Klein in der Schuberts Mühle. Dort brachte sie im Alter von 19 Jahren ihre Tochter Dorothea Paulina zur Welt am 19. März 1874. Als sie 21 Jahre alt war, heiratete sie den 24-jährigen Müllersohn Michael Schubert (1850 - 1915). Nur zwei Monate nach der Hochzeit hörte man in der Schuberts Mühle den ersten Schrei ihrer zweiten Tochter Emma Josepha. Wie damals üblich, war der Kindersegen reichlich. So vergrößerten die Müllersfamilie Sohn Kaspar, die Mädchen Katharina Barbara und Dorothea Mathilde. Das Baby Anna Barbara starb schon bei der Geburt am 4.5.1882. Die Wöchnerin Sophie Schubert, geborene Klein hat das Kindbett nicht mehr verlassen. Sie selbst starb 20 Tage nach dem Tod ihrer kleinen Anna Barbara mit nur 29 Jahren.

Die Geschichte von Sophie Klein aus Gräfendorf ist ein bewegendes Beispiel für das Schicksal vieler junger Frauen im 19. Jahrhundert. Ihr Leben war geprägt von Verlust, Armut und Entbehrungen. Als wirtschaftlich abhängige und ungebildete Frau war sie auf den Platz angewiesen, den ihr die damals vorherrschende Männerwelt zuwies. Diese Erzählung soll uns daran erinnern, dass die Rechte der Frauen nicht von Natur aus gegeben waren, sondern hart erkämpft werden mussten. Um sicherzustellen, dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät, ist es wichtig, die Lebenserfahrungen vergangener Generationen zu kennen.