Ursprünglich als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs ins Leben gerufen, dient der Volkstrauertag seit 1952 als Gelegenheit zum Innehalten für die Opfer von Krieg und Gewalt überall auf der Welt.
Auch in Hirschhorn wurde am Sonntag 17. November an die Opfer bei den zentralen Gedenkfeiern in Igelsbach, Langenthal und Hirschhorn gedacht.
Abgedruckt werden an dieser Stelle die beiden Reden von Pfarrer Alexander Muth und Bürgermeister Martin Hölz.
Zunächst die Rede von Pfarrer Alexander Muth:
Wochenspruch zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres:
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“
2 Kor 5,10a
Der Richterstuhl. Liebe Langenthaler, Igelsbacher, Hirschhorner, vom Richterstuhl ist im biblischen Wochenspruch für diese vorletzte Woche des Kirchenjahres die Rede.
Der Richterstuhl, er scheint mir auch ein passendes Bild für den Volkstrauertag in diesem Jahr zu sein.
Auf den Richterstuhl haben es derzeit viele abgesehen. Viele meinen, sich auf ihn schwingen zu können. Polternd, mit Parolen und fesselnden Reden.
Ob das in Amerika ist, in Russland oder auch in Deutschland. Welche Folgen das haben kann, wenn man sich auf den Richterstuhl schwingt, um eigene Interessen durchzusetzen, spüren wir überall. Deshalb ist ein Gedenktag wie dieser überhaupt nötig geworden. Deshalb müssen wir einen Volkstrauertag begehen. Um das Leid und das Unrecht zu beklagen. Und um derer zu gedenken, die (oft) unverschuldet Opfer dieser Richterstühle werden.
Der Volkstrauertag wurde seinerzeit eingeführt, um dem Leid und der Opfer der beiden Weltkriege zu gedenken.
Es geht beim Volkstrauertag um das Erinnern und das Mahnen, damit sowas wie in den beiden Weltkriegen nie mehr vorkommt. Und im Moment sind wir scheinbar nicht weit davon entfernt. Nein, eigentlich sind wir mittendrin, nur eben nicht in Deutschland.
Erinnern ist auch notwendig, um des vielfältigen Unrechts zu gedenken, das geschehen ist. Wie viele, die unschuldig Opfer des Nationalsozialismus geworden sind? Zum einen die etwa 6 Millionen Juden, die in den KZ’s „vernichtet“ worden sind, deren Leben ausgelöscht und die beseitigt wurden wie Abfall. Unrecht – das zum Himmel steigt.
Aber es sind ja auch noch andere gewesen, deren Leben ausgelöscht wurde – die politisch eine andere Meinung vertreten haben, die geschehenes Unrecht beim Namen genannt und angeprangert haben, Menschen, die sich nicht „gleichschalten“ ließen.
Warum kommen heute Flüchtlinge hierher? Nicht nur wegen Krieg und Armut, sondern auch weil sie ihre Meinung nicht sagen dürfen. Weil sie das Unrecht das geschieht anprangern. Nicht nur in Russland oder Nordkorea ist es gefährlich seine Meinung zu sagen. Das gilt ebenso für unseren großen Handelspartner China, um eine weitere Großmacht zu nennen.
Und mit Ernst schauen viele von uns auch auf die Lage hier im Land. Auch hier werden Menschen, die eine andere Meinung haben zunehmend bedroht. Unsere Demokratie zeichnete sich bisher durch diese Meinungsfreiheit aus. Ihr weht jedoch heute ein rauer Wind entgegen. Wir müssen aufwachen, aus dieser trügerischen Sicherheit. Nur weil es uns seit bald 80 Jahren gut geht, heißt das nicht, das es nicht auch schnell wieder anders werden kann.
Es ist für mich erschütternd, wie rechtsradikales Gedankengut auch in unserem Land wieder an Boden gewinnt und anziehend vor allem auch auf junge Menschen wirkt. Gedankengut, was in den letzten Jahren und vor allem seit Corona und der Querdenkerszene zunehmend erstarkt und Grund zur Besorgnis ist. Aus der Vergangenheit ist anscheinend wenig gelernt worden.
Hier wird auf breiter Ebene gerichtet, obwohl wir doch mal von Jesus selbst gelernt haben, der gesagt hat: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Mt 7,1
Dieses Wort von Jesus soll uns eine Mahnung sein. Uns und allen die sich erheben über andere und zu Gericht sitzen wollen. Und dabei massenweise Menschen in den Tod schicken. Als Soldaten und als Zivilisten.
Volkstrauertag – ein Tag der Mahnung. Er erinnert uns an unsere Verantwortung, die wir als Bürger Deutschlands, wie auch als Christen haben. Wir stehen in der „Nachfolge“ desjenigen, der gesagt hat: „Selig sind die, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen.“ Matth.5,9
Frieden stiften ist unsere Aufgabe, denn „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“ So gibt es uns Paulus mit. Wohl wissend, dass dieser Richterstuhl der einzige Richterstuhl ist, der auch mit einem gerechten Richter besetzt ist.
Dieser Richterstuhl ist auch derjenige, vor dem sich alle verantworten müssen, die sich zu Lebzeiten selbst als Richter aufspielen.
Möge uns das allen bewusst sein. Jesus hat das letzte Wort. Egal wie manch einer sich hier aufbläst.
Jesus hat das letzte Wort. Und er wird Frieden schaffen für unsere Seelen. Weil er das einzig gerechte Urteil fällen wird.
Nun die Rede von Bürgermeister Martin Hölz:
Da habe ich einen gehört
wie er seufzte: Du liebe Zeit!
Was heißt da Du liebe Zeit?
Du unliebe Zeit, muss es heißen
Du ungeliebte Zeit!
von dieser Unzeit, in der wir
leben müssen. Und doch
Sie ist unsere einzige Zeit
Unsere Lebenszeit
Und wenn wir das Leben lieben
können wir nicht ganz lieblos
gegen diese unsere Zeit sein
Wir müssen sie ja nicht genau so
lassen, wie sie uns traf
- Erich Fried -
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
das Gedicht, das Sie eben gehört haben, stammt aus dem Werk „Gegengift“ von Erich Fried. Er kam 1921 in Wien als Sohn jüdischer Eltern zur Welt, lebte ab 1938 in London und war ein Hauptvertreter der politischen Lyrik der Nachkriegsjahre. Er war ein engagierter und überzeugter Humanist. Er verlor seinen Vater durch die Gewalt der Gestapo. Er war Zeitzeuge des Nationalsozialismus und mahnte in seinen nicht immer unumstrittenen Gedichten und Werken an Frieden. Er war ein Mensch, dessen Leben vom Krieg überschattet und begleitet wurde. Einer von vielen.
Der Volkstrauertag ist ein staatlicher Gedenktag, ein Tag der Trauer und des Erinnerns. Er ist einer zentralen und schwierigsten menschlichen Emotion, der Trauer, und den schlimmsten menschlichen Erfahrungen, dem Verlust von Menschen durch Gewalt und Krieg, gewidmet. Wir alle, die wir in unserem Leben einmal Abschied nehmen mussten von einem Familienmitglied, einem engen Freund oder Bekannten, wissen wie überwältigend erdrückend das Gefühl der Trauer und des Schmerzes ist. Wie erdrückend muss das Erleben sein, wenn das endgültige Auslöschen und Ende eines Menschenlebens durch Gewalt und Krieg herbeigebracht wurde?
Wir kommen am heutigen 17. November 2024 unter außergewöhnlichen Umständen zusammen, um zu erinnern und zu gedenken. Eine Krise jagt die andere und die Welt, um uns herum ist es so unruhig, so konflikt- und kriegsgebeutelt wie selten zuvor in den vergangenen Dekaden. Uns erreichen anhaltend erschütternde Nachrichten aus der Ukraine, aus Israel und dem Gazastreifen. Der Drogenkrieg in Mexiko oder der äthiopische Bürgerkrieg sind ausgeblendet, grassieren aber weiterhin – nur kommen wir kaum dazu, unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten. Der Frieden ist so selbstverständlich für uns. Krieg ist für uns ein Begriff, aber keine eigens gemachte Erfahrung. Zerstörung, Verzweiflung, Angst; diese Dinge werden erst Realität für uns, wenn der Krieg nicht mehr ganz so fern ist.
Vor kurzem bin ich in eine Situation gekommen, bei der eine Kollegin mit ihren Eltern in der Ukraine telefoniert hat. Für die Eltern ist der Krieg Alltag, Fliegeralarm, Flüchten in den Bombenschutzkeller, Hoffen dass der Tag wieder ohne direkte Einschläge im Haus vorübergehen mag. Die Verbindung wurde unmittelbarer, und ging mir sehr nah, näher als eine medial vermittelte Berichterstattung.
Eine andere ukrainische Geflüchtete beschrieb ihre Situation wie folgt: „Wissen Sie, vor dem Krieg dachten wir, dass wir viele Probleme hätten. Heute sehe ich das anders. Wir waren glücklich, aber wir haben es einfach nicht verstanden. Für mich sind materielle Werte nicht mehr so wichtig wie vor dem Krieg. Ich verstehe, dass mein ganzes Leben in einen Rucksack passen kann.“
Es handelt es sich beim Volkstrauertag nicht um ein verstaubtes Ritual aus einer fernen Vergangenheit. Es geht um mehr, als um eine Tradition, deren Basis und Erinnerung vielleicht langsam verblasst. Wir gedenken nicht nur jener Menschen, die unter den Deutschen während der finsteren Abschnitte unserer eigenen Geschichte gelitten haben, sondern auch all jener, die bis heute unter bewaffneten Auseinandersetzungen, Terror und Folter leiden und an deren Folgen sterben. Dieses Gedenken ist eine menschliche Verpflichtung, keine bloße Erinnerungsveranstaltung im Sinne einer Art Familientreffen von und für vergangenheitsorientierte Menschen.
Krieg, Gewalt und Terror ist menschengemacht. Da wirken keine anonymen Mächte und Strukturen. Der Mensch ist zwar ein vernunftbegabtes Wesen, doch beeinflussen Emotionen wie Neid, Wut, Zorn, Enttäuschung, Gier, Angst konflikthafte Situationen und letztlich auch Kriege. Krieg, Gewalt und Terror sind eine Bankrotterklärung von Vernunft und Mitmenschlichkeit. Und doch erleben wir uns und unsere Gesellschaft gerade so gefühlsbasiert, setzen Emotionen absolut, wissen manchmal nicht wohin mit Wut, Enttäuschung oder Scham. Daraus entstehen „Wutbürger“, „Empörungswellen“, „gefühlte Wahrheiten“. Dagegen positionieren andere Menschen und Gruppen und schon ist die Polarisierung geschaffen.
Doch rein emotional lässt sich keine Diskussion führen, und man weiß, wie es weitergeht, wenn kein Gespräch mehr möglich ist. Der Bogen von einem alltäglichen Phänomen unserer Lebenswelt - nicht mehr mit „dem Anderen“ zu sprechen - hin zu Konflikten und Kriegen auf globaler Ebene mag vielleicht groß skaliert sein. Aber von „Skalieren“ (Änderung der Größenverhältnisse) zu „E-Skalieren“ ist es unter ungünstigen Bedingungen oftmals nicht weit.
Die aktuelle Weltlage fordert uns heraus, ein Zeichen für Frieden und Verständigung zu setzen.
Unsere Situation in Deutschland stellt ein nicht selbstverständliches Privileg dar. Der Volkstrauertag ist ein Anlass des Erinnerns gegen die „Abhängigkeitsvergessenheit“, die sich in unserem individualisierten Alltag festgesetzt hat. Denn wer aus der Geschichte nichts gelernt hat, ist dazu verurteilt sie zu wiederholen. Das soll und darf uns nicht passieren und wir sind in der Verantwortung, alles uns Mögliche zu tun, damit wir und unsere Kinder und Enkel eine friedliche Zukunft haben. Wie könnte dieses Zeichen aussehen? Vielleicht indem wir positive Emotionen dagegenhalten: Versöhnlichkeit, Empathie, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Freude, Liebe und Zufriedenheit. Das heißt keinesfalls, dass wir uns einem gleichgültigen Toleranzdiskurs unterwerfen. Mit einer Besinnung auf unsere grundlegenden gesellschaftlichen Werte und die daraus entwickelten Institutionen mag es uns gelingen, in dieser Zeit, in der die Weltuntergangsuhr noch so kurz vor 12 stand wie seit 2023, zur Förderung des Friedens beizutragen.
Ich spreche nun das Totengedenken:
Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg,
an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,
der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder
danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und
Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
einer anderen Rasse zugerechnet wurden,
Teil einer Minderheit waren oder deren Leben
wegen einer Krankheit oder Behinderung
als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand
gegen Gewaltherrschaft geleistet haben,
und derer, die den Tod fanden, weil sie an
ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage,
um die Opfer von Terrorismus und
politischer Verfolgung,
um die Bundeswehrsoldaten und
anderen Einsatzkräfte,
die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer,
die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.
Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus,
Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.
Wir trauern mit allen,
die Leid tragen um die Toten und
teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der
Hoffnung auf Versöhnung unter den
Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem
Frieden unter den Menschen zu Hause
und in der ganzen Welt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Kommen. Allen, die heute an der Gedenkstunde aktiv beteiligt waren, danke ich dafür ganz herzlich.