Wolfgang Hardtwig (li.) im Gespräch mit Hans Grabmüller
Gerold Stiegler erhält die Ehrenurkunde
„Der Hof in den Bergen“ heißt das Buch, in dem der emeritierte Geschichtsprofessor Wolfgang Hardtwig von seiner Kindheit und Jugend in Reit im Winkl erzählt. Etwa 25 Zuhörer, die auf Einladung des Heimat- und Geschichtsverein Achental gekommen waren, nahmen gerne an den Erinnerungen Hardtwigs aus der Nachkriegszeit teil. Hans Grabmüller, Vorsitzender des HGV, gestaltete die Buchvorstellung mehr als Interview.
Bald schon jedoch ging es mehr um einen Austausch gemeinsamer Erinnerungen. Hardtwigs Großvater Eduard Hamm, ein ehemals bedeutender Politiker, der aller Ämter beraubt worden war, hatte den Hof in Oberbichl 1933 gekauft. Besonders der inzwischen 99-jährige Franz Schlechter aus Reit im Winkl konnte sich noch lebhaft an die Familie Hardtwig erinnern. Er berichtete von einer bewegenden Episode im Zusammenhang mit der Verhaftung von Hardtwigs Großvater durch Nazi-Schergen, die der Autor selbst nicht kannte.
Mit vielen der Anwesenden verbindet Hardtwig die Schulzeit am Landschulheim in Marquartstein. So erinnerte er sich noch gut an den ehemaligen Lehrer Hans Rieß, der ihm - obwohl er in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht gut war - immer wohlgesonnen blieb. Dessen Tochter Claudia Rieß, 2. Vorsitzende des HGV, hatte aus dem Familienarchiv zwei alte Jahresberichte der Schule mitgebracht. Aufgrund der Klassenlisten entsann sich Hardtwig, dass Hans Glas, von allen nur „Goggo“ genannt, sein Mitschüler war. Der Spitzname wurde der Markenname des Goggomobils.
Zuletzt fragte Grabmüller noch, welchen Stellenwert Hardtwig als Historiker den Heimat- und Geschichtsvereinen einräume. Bereits Ludwig I hat 1825 Beamte vor Ort beauftragt, Geschichtsvereine zu gründen, wusste Hardtwig zu berichten. Mitglieder waren Ärzte, Apotheker und Lehrer. In den 1970er Jahren gab es zunehmend Proteste gegen die Geschichtsschreibung der Gelehrten, die „von oben herab“ die Deutungshoheit übernommen hatten. Dem entgegen steht die Erforschung regionaler Geschichten und Gepflogenheiten, die auf lokaler Ebene die Geschichts- und Erinnerungskultur wachhalten.
Geschichte wird von Menschen gemacht - das war an diesem Abend wirklich deutlich zu spüren. - sto
Seinem ältesten Mitglied Gerold Stiegler hat der HGV Achental am 5. Mai eine schöne Feier bereitet. Am Ostermontag war Stiegler 100 Jahre alt geworden und kann damit auf eine unglaublich lange Zeit zurückblicken. Er selbst sagt von sich, dass er das große Glück eines erfüllten Lebens hatte. Sehr anschaulich belegte das Erich Kamm mit seiner Laudatio.
Geboren in einer Zeit des großen gesellschaftlichen und politischen Umbruchs, war er zehn Jahre alt, als Hitler 1933 an die Macht kam. Der CVJM, in dem er Mitglied war (und der damals noch Christlicher Verein Junger Männer und nicht wie heute Junger Menschen hieß), wurde einfach in die Hitlerjugend eingegliedert und jüdische Mitschüler verschwanden über Nacht. 1941, gleich nach dem Abitur, wurde er eingezogen und geriet 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1946 gelang ihm die Flucht und er konnte Weihnachten wieder mit seiner Familie feiern. Ein Jahr später hatte er sich bereits an der Uni in Berlin eingeschrieben, wo er im Jahr der Gründung der Bundesrepublik 1949 seine Frau heiratete. Zwei Söhne und ein Zwillingspärchen wurden dem Paar geboren.
Beruflich war Stiegler die längste Zeit bei Osram und Bahlsen tätig, bis er 1986 in den Ruhestand gehen konnte. 1987 zog er mit seiner Frau nach Grassau, wo sie ein Haus bauten, in dem Stiegler noch immer lebt.
Dass das Wort Ruhestand verschieden ausgelegt werden kann, zeigt Stieglers Lebenslauf in dieser Zeit, denn er hat nicht nur die Diakonie im Achental der evangelischen Kirchengemeinde Marquartstein mit aufgebaut, sondern engagierte sich von Anfang an als Mitautor der mittlerweile 12-bändigen Grassauer Chronik. Aber nicht nur in dieser Chronik hat Stiegler mitgewirkt, sondern auch bei den Achentaler Heften, die der HGV Achental herausgibt.
Nach der Laudatio ernannte Dr. Hans Grabmüller, der 1. Vorsitzende, Gerold Stiegler zum Ehrenmitglied des Heimat- und Geschichtsvereins Achental, was die anwesenden Gäste mit einem Glas Sekt feierten.
Zeit ist ein zentrales Thema unseres Heimat- und Geschichtsvereins und dabei der Blick in die Vergangenheit. Auf 100 Jahre Lebenszeit blicken zu können, ist ein besonderes Geschenk. Das nahm Grabmüller zum Anlass, im zweiten Teil der Feier über das Phänomen Zeit zu referieren. Es gibt eine Vielzahl von Zeittheorien, bisher ist es aber nicht gelungen, diese zu einer einheitlichen Hypothese zu formen. 15 Jahre lang recherchierte er zu diesem Thema und hat seine Erkenntnisse im Buch „Was also ist die Zeit …?“ zusammengefasst. Einen kurzen Einblick in seine Überlegungen gab er seinen Zuhörern.
Seit drei Jahrtausenden fragen sich Philosophen, was die Zeit sei, denn sie spielt sich nicht im Bewusstsein ab, sie ist nichts Reales. Real sind die unaufhörlichen Veränderungsprozesse, denen das Leben ausgesetzt ist. Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit der Rekonstruktion dieser Ereignisse und möchte die Prozesse in einen schlüssigen Zusammenhang bringen.
Nach diesem philosophischen Ausflug klang der Abend bei einem kleinen Imbiss und lockerer Unterhaltung aus. - sto