In vorausgehenden Ausgaben unseres Gemeindeblattes hatte ich schon mehrere Geschichten aus jener turbulenten Zeit erzählt, die von heute aus gesehen sehr abenteuerlich erscheinen. Sie zeichnen auch ein wahres historisches Bild, wie es anderen Menschen damals erging. Die neue Geschichte lautet
Am 15. April 1945 wurde unsere Region durch den Einmarsch amerikanischer Truppen von den Nazis befreit. Inzwischen war der Monat Mai ins Land gekommen, ein Frühjahr, wie im Bilderbuch: sonnig, geradezu sommerlich warm. Unser Freiheitsdrang, im Freien umherzuschweifen, war jedoch ziemlich eingeschränkt. Der Krieg auf deutschem Boden war zwar am 8.Mai endgültig beendet worden, doch es herrschte auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung eine allgemeine Ausgangssperre bis auf zwei Stunden am Vormittag und am Nachmittag, ausgenommen waren Leute, die notwendige Arbeiten verrichten mussten, und Landwirte. Da erreichte uns die Kunde (ohne Handy oder Telefon!), in Hof gäbe es am Schollenteich kleine kajak- ähnliche Boote, man müsse sie nur im rechten Augenblick entwenden. Ein Boot, das wäre ein tolles Spielgerät für den kommenden Sommer! Diese Nachricht überbrachte der Cousin meiner Freunde, der etwa gleichaltrige Erich Wülferth, der in der Nähe des Schollenteiches wohnte. Sofort hielten wir „Kriegsrat“, wie wir folgende logistische Aufgabe bewältigen könnten: In der begrenzten Ausgangszeit nach Hof zu eilen (zu Fuß wohlgemerkt (!), das Boot zu finden und zu entwenden (wir sagten „klauen“) und damit nach Konradsreuth zurückzukommen. Wie wir diese Aufgabe lösten, war ein außergewöhnliches Abenteuer, wie es nur in einer wirren, geradezu gesetzlosen Zeit jener ereignisreichen Nachkriegstage entstehen konnte.
Wir, das waren Hans Wülferth und ich als die beiden Jüngsten, 11 und 12 Jahre alt, und unsere etwas älteren Freunde Heinrich Kaußler, Christian Puchta (genannt „Sturm“) und Richard Tauber. Als Startzeit legten wir den Beginn der vormittäglichen Ausgangszeit fest. Der „Sturm“ brachte seinen Brückenwagen (Handwagen mit ebener Ladefläche) mit, der sonst zur Beförderung eines schweren Webbaumes diente. So zogen wir auf der damaligen Hofer Straße über Martinsreuth, den Kuttenberg hoch, die lange Gerade der Kutten hindurch. Abwechselnd saßen zwei auf, während die andern im Dauerlauf zogen und schoben. Die lange Gefällstrecke von der Einmündung des Pirker Weges bis Krötenbruck gings „mit Karacho“ hinunter. Als wir unser Ziel, den Schollenteich, erreichten, lagen wir gut in der Zeit. Der Wülferths Erich wartete schon.
Der Schauplatz unseres Abenteuers lag an der Bahnlinie Hof – Oberkotzau, am Fuße der steilen Böschung beim Alsenberger Durchlass, heute noch das gleiche Nadelöhr wie damals. Aber wie sah es oben auf dem vielgleisigen Güterbahnhof aus? Wenige Tage vorher waren dort noch Bomben gefallen. Güterzüge voller Kriegsmaterial stauten sich, weil Geleise zerstört waren. Durch die Wucht der Bombenexplosionen waren Waggons und sogar schwere Lokomotiven aus dem Geleise geworfen worden. Zwischen den festsitzenden Güterzügen krochen einige Hofer Anwohner umher und suchten nach Brauchbarem. Man konnte alles brauchen in jener Zeit. So „plünderte“ jeder auf seine Weise. Diese Szenerie wurde vervollständigt durch Insassen des berühmt-berüchtigten Lagers Moschendorf, das die Amis unter Kontrolle genommen hatten Aus dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager war das „Durchgangslager Moschendorf“ geworden. In den unzähligen Holzbarracken sammelten sich Flüchtlinge und Heimatvertriebene, aber auch die von den Nazis verschleppten Personen und Ausländer, die zum Arbeiten nach Deutschland gebracht worden waren. Um den Überblick zu behalten, malten die Amis den Insassen einfach zwei weiße:Buchstaben auf den Rücken: die einen erhielten das Zeichen PW (= prisoner of war / Kriegsgefangener), andere bekamen das Kennzeichen DP (= displaced persons / z.Zt.heimatlose oder von den Nazis verschleppte Personen, die auf ihre Heimreise warteten. Sie stammten vorwiegend aus osteuropäischen Ländern).
Die „DP's“ genossen ihre neue Freiheit und vergnügten sich auf ihre Weise. Sie hatten die „Kajaks“ auf einem Güterwagen im Bahngelände entdeckt und zu ihrem Vergnügen am Schollenteich eingesetzt. Von denen kam nun eines abhanden. Es landete am gegenüberliegenden Ufer, gesteuert von Wülferth Erich, der damit umgehen konnte. Wir warteten schon, verborgen im Gebüsch und Schilf. Es musste sehr schnell gehen. Hastig zogen wir das Boot aufs Trockene, brachten es im Laufschritt zum Handwagen und ab ging's, den gleichen Weg zurück nach Konradsreuth. Mit der Last und der ständigen Steigung bis zur „Kutten“ aber weitaus beschwerlicher. Die Ausgangszeit war längst überschritten, doch die Amis nahmen es nicht so genau. Auf der Höhe vom Lausenhof rasteten wir – völlig erschöpft und hungrig. Wir bettelten um ein Stück Brot, das uns die mitleidige Bäuerin auch gab – eine kleine Stärkung und weiter ging's, durch die Kutten, Kuttenberg hinab. Martinsreuth und schon war Konradsreuth in Sicht. Doch wir gaben keine Ruhe, das Boot wurde umgehend im Dorfteich eingesetzt – wir mussten es doch ausprobieren! Doch so leicht war das nicht. Keiner hatte Erfahrung und konnte das Gleichgewicht halten, noch dazu ohne Paddel, mit den bloßen Händen als Antrieb. Es kam, wie es kommen musste. Einer nach dem andern probierte es und alle gingen baden, unter dem Hallo der inzwischen angewachsenen Zuschauermenge der Anwohner rund um den Dorfteich. Doch schnell hatten wir „den Dreh' weg“. Noch am späten Nachmittag drehten wir vorsichtig die ersten Runden auf unserem Dorfteich. Wo wird das Boot sicher verwahrt? Beim Schörner! So kam es, dass zum Schluss ich die Verantwortung über das neue Spielgerät übernehmen musste. Bald brachten wir das Boot ins Schwimmbad. Auch dort musste es am Ende eines jeden Tages in der Gerätehütte verwahrt werden. Die Fertigkeit, mit ihm umzugehen ohne umzukippen, wuchs von Tag zu Tag. Ein- und aussteigen, am Ufer oder im offenen Wasser, das gekenterte Boot wieder aufrichten, vorher eingedrungenes Wasser entleeren, wir lernten immer mehr dazu – jeder einzelne. Doch wir wurden auch immer nachlässiger. Eines Tages war es verschwunden! Die älteren Freunde hatten es im „Neuen Teich“ eingesetzt. Doch sein Versteck im dichten Wald war nicht sicher. Eines Tages fanden wir nur noch zersplittertes Holz und zerborstene Planken. Jemand hatte es in die Luft gesprengt. Wir fanden auch heraus, wer es war. Zwei ältere Burschen hatten mit Fundmunition hantiert, die zu jener Zeit stellenweise in den Wäldern als Hinterlassenschaft eines zu Ende gegangenen Krieges noch zu finden war. Glücklicherweise ist keinem etwas passiert, doch unser außergewöhnliches Spielgerät, das uns den Sommer über viel Freude bereitet hat, war vernichtet.
Diese beiden genannten Burschen hatten auch am Anfang des Waldgebietes ein Schild an einem Baum angebracht: Eingang zur Neuen Welt. Die vielen Neubürger, die in jener Zeit in Konradsreuth seßhaft wurden, wussten es nicht anders – so erhielt das Waldgebiet einen neuen Namen: „Die Neue Welt“.