Eine Frau mit vielen Facetten
Folgen Sie mir bitte durch das Leben der Heiligen Hildegard von Bingen. Stellen Sie sich das Mittelalter, die Jahre um 1100 und 1200 in der Region zwischen den Flüssen Nahe und Rhein vor. Die achtjährige Hildegard wurde von ihren Eltern in den Haushalt der frommen Witwe Uda von Göllheim übergeben, wo auch ihre ältere Verwandte Jutta von Sponheim lebte, von der sie ab dem Alter von 14 Jahren maßgeblich geprägt und auf ein religiöses Leben vorbereitet wurde. Die Frauen lebten damals in dem abgeschiedenen Kloster Disibodenberg, nahe der Ortschaft Odernheim in der nordwestlichen Pfalz, in direkter Nachbarschaft der von Männern geführten Benediktinerabtei. Wenn wir diesen Ort heute besuchen finden wir ein Schild mit der Aufschrift „Frauenklause“. Wie lebten die Frauen dort zu der Zeit, ohne fließendes Wasser, ohne Strom? Wovon lebten sie? Was gab ihnen Kraft und wie gestalteten sie ihren Alltag, wie ihre Feste? Was war es, was die besonders heute von so vielen Menschen verehrte Kirchenlehrerin Hildegard zu ihrem von besonderer Gottesbeziehung geprägtes Leben und Wirken geführt hat? Hildegard blieb mehr als 40 Jahre an diesem Ort, der dadurch heute viele Touristen anlockt. Im Gästebuch der schlichten Kapelle dort kann man zum Beispiel lesen „Man spürt die Ruhe und die Kraft, die von hier ausgehen.“
Mit Ruhe war es aber ab dem Jahr 1141 für Hildegard vorbei, denn ab dann trat sie als Seherin auf. Eine Klosterfrau, die sich als Sprachrohr Gottes versteht – eigentlich war das damals Ketzerei, jedenfalls hat sie damit die Männerwelt in Aufruhr versetzt. Aber sie hatte mächtige Unterstützer: Der Abt von Disibodenberg sowie ihr Bischof setzten sich öffentlich für sie ein und so wurde sie auf der Synode in Trier im Jahr 1147 offiziell als Kirchenlehrerin anerkannt. Sie wurde eine der gefragtesten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Ihre Schriften sind selbst für uns heute noch in Menge, Vielfalt und Anspruch atemberaubend, spannend, einfallsreich, künstlerisch und wissenschaftlich wertvoll und höchst inspirierend.
Nach zähen Verhandlungen ist Hildegard im Jahr 1150 gelungen, mit ihren Mitschwestern in das Kloster Rupertsberg zu ziehen. Nachdem dessen Gebäude 1859 dem Bau der Eisenbahn weichen musste, sind Hildegards Nachfolgerinnen dann 1904 in das Kloster Eibingen auf der rechten Rheinseite gezogen. Dort erhebt sich die Abtei St. Hildegard als weithin sichtbares Zeichen in Erinnerung an eine großartige geistliche Pionierin.
Jan. Mäurer, kath. Kirche, Bad König